Diese Zahlen schmerzen: Jene elf Länder, aus denen die meisten Venedig-Touristen kommen, haben einen Anteil von über 61 Prozent am Welt- Bruttosozialprodukt. Jene elf Länder, aus denen die meisten Venedig-Migranten kommen, haben einen Anteil von gerade mal 1,15 Prozent an der globalen Wertschöpfung. Solche Fakten räumen nicht nur mit verklärenden Venedig-Klischees auf, sie erwecken auch Neugierde, wie die Antwort auf die gleiche Frage in Nürnberg aussehen würde.

Interessant wäre es zum Beispiel, einmal zu klären, wie viel Prozent der Geschäfte in den Straßen rund um den Hauptmarkt hauptsächlich die Bedürfnisse von Touristen decken. Oder wie und wo die internationalen Luxusmarken im Stadtkern vertreten sind. Oder wie viel Parkfläche die Reisebusse aller Christkindlesmarkt-Besucher im Vergleich zur Fläche der historische Altstadt brauchen. Oder in welchen Staaten der Nippes hergestellt wird, den es rund um den Markt zu kaufen gibt.

Auf solche und noch viel mehr Fragestellungen bringt den Leser der umfangreich. Stadtatlas, den Wolfgang Scheppe, Professor für Philosophie und Bildtheorie an der Universität für Architektur in Venedig (IUAV), mit seinen Studenten in drei Jahren Recherche erstellt hat. Er heißt «Migropolis« und fächert das Spannungsfeld von globalen Menschen- und Warenströmen auf, in dem sich eine Metropole wie Venedig heute befindet.

Mit zahlreichen Grafiken und Diagrammen, die mit Methoden der soziologischen Feld-forschung gewonnen wurden, entsteht die Kartografie einer modernen Stadt, in der sich Touristen, Bewohner und Einwanderer die selben Lebensräume teilen, ohne voneinander zu wissen oder miteinander in Berührung zu kommen. Zahlreiche Interviews und Fallstudien lassen exemplarisch Menschen aus all diesen Sphären zu Wort kommen, über 2000 Fotos geben Einblick in diese Lebens- und Erfahrungswelten sowie hinter die zu Touristenmotiven erstarrten Kulissen der Lagunenstadt und versuchen das Phänomen «Venedig« zu erfassen, abzubilden, einzufangen.

Das verblüffende und aufregende an diesem Vorhaben ist, dass es tatsächlich gelingt. Deshalb arbeitet man sich auch gern durch die englische Sprache, in der das Buch geschrieben ist. Als Ergebnis stößt man auf hunderte Geschichten und Themen, die sich, ganz den Absichten der Autoren entsprechend, auf viele andere Städte und damit auch auf Nürnberg übertragen lassen. Die idealisierten Bilder von pittoresken, entsprechend den Erwartungen der Touristen herausgeputzten Fassaden räumt «Migropolis« aus unseren Köpfen. Und öffnet sie für einen anderen, ungeschönten Blick auf die Stadt.

Scheppe und sein Team sprechen mit ihrem Großprojekt auch die Öffentlichkeit direkt an: in einer Ausstellung am Markusplatz, dem zentralen Anziehungspunkt Venedigs. In der Fondazione Bevilacqua haben sie ihre Bilder, Grafiken und Diagramme nicht nur gegen die touristische Foto-Fassade der unmittelbaren Umgebung gestellt, sondern auch das Bild der Stadt direkt verändert. Über das Ortsschild von Venedig auf dem Ponte della Libertà, der einzigen Landverbindung zur Stadt, stülpten sie das Schild «Inside only to buy«, was so viel heißt wie «Zutritt nur, um einzukaufen«. Dieses Schild findet sich in einigen touristischen Läden Venedigs, doch in diesem neuen Kontext sagt es sehr viel aus über die konsumorientierte Logik unserer dauermobilen Welt und wird nebenbei zu Kunst im öffentlichen Raum.