Es wird in Europa, in den USA oder Japan nur wenige Menschen geben, die nicht ein Bild von Venedig im Kopf haben. Sei es, dass sie die Lagunenstadt ein- oder mehrmal selbst besuchten, sei es, dass sie immer schon einmal hin wollten und Venedig nur aus Erzählungen, von Bildern oder aus Filmen kennen. Oder sei es, dass sie die Stadt auf Henkelbechern, in Spielwarengeschäften oder sonstwo in meist zweifelhafter Kopie gesehen und als wirkliches Abbild auffassten. Die meisten dieser „Kenner“ kennen die Stadt allerdings nur aus einer Inselansicht, welche sie von den Touristen-Highlights aus genießen, die nicht selten Neubildungen von älterem Bestand sind. Manche trauen sich auch schon mal in die stilleren Seitengassen, doch sobald der Menschenstrom abreisst und der Besucher mit Venedig allein ist, sinkt der Mut und man kehrt schnell in die Gassen zurück, in denen die Touristen-masse auf dem Wege zum nächsten Hotspot an möglichst vielen Läden vorbeigeführt werden: schlechtes Essen, gefälschte Ware, Murano-Souvenirs made in China. Denn die scheinbar authentischste Stadt, die, wie viele meinen, lediglich von außen angegriffen wird, ist längst schon der Globalen Ökonomie zum Opfer gefallen. Und diese zeichnet sich nur durch Aberwitz aus, sie setzt mehr und mehr Menschenströme in Gang, Migrantenströme. Deren Ziel ist das vergleichsweise liberale Italien, das der Festung Europa mit weiten Küstenstreifen allerdings auch mit größeren Gesezteslücken die Breschen schlägt, die der Rest hinter den Mauern so fürchtet. Lampedusa steht paradigmatisch für Migrationsgeschehen, dessen ganze Brutalität nur selten in unseren Medien Platz hat; oder wenn, dann in möglichst reisserischer, Angst machender Weise.

Aber was hat die Serenissima mit Migranten zu tun? Im Winter 2006 schwärmte ein Kollektiv von Studenten der IUAV Universität in Venedig aus, um ihre Stadt unter der Ägide des Philosophen Wolfgang Scheppe einer strukturellen Kartierung zu unterziehen. Aus den Feldforschungen entwickelte sich ein urbanistisches Projekt, in dessen dreijährigem Verlauf ein gigantisches Archiv aus zehntausenden Fotos, Fallstudien, Bewegungsprofilen und statistischen Daten entstand, deren Kern wohlaufbereitet und allen offenbar nun in zwei dicken Bänden vor uns liegt. Am Kreuzungspunkt dreier Korridore der Migration offenbart sich die wunderschöne Lagunenstadt mit einem Mal „als europäische Frontstadt und exemplarischer Prototyp für die Eskalation der globalisierten Stadt“ (Verlag). Venedig, beinahe entvölkert und mit einem Millionenheer des internationalen Tourismus konfrontiert, hat eine Parallelökonomie legaler/illegaler Immigranten entwickelt. Deren Struktur wird im globalen Kontext verortet (Diagramme), über Fotostrecken veranschaulicht und so genannte Fallstudien personalisiert. Die Arbeit zeigt uns Venedig hinter der Oberfläche, zeigt uns Venedig, wie wir es eigentlich selbst sehen könnten, dächten wir einfach nach. Zum Beispiel, wieso das heimatlich gefertige Kunsthandwerk so unglaublich günstig ist, warum die Farbigen mit ihren blauen Müllsäcken auf dem Rücken, die vollgestopft sind mit den kümmerlichen Fakes unserer Konsumfetische, selten von der Polizei vertrieben oder gar verhaftet werden, warum im Restaurant kaum noch Italiener die Pasta oder Pizza auf den Tisch stellen und so fort. Weil Venedig längst eine teure Kulissen geworden ist, ein potemkisches Dorf, dessen reibungsloses Funktionieren ein Heer von Billiglöhnern ermöglicht, die alle von irgendwoher einmal kamen, blieben.

In der Reihung der unterschiedlichsten Biografien von Besuchern (von Tages-touristen bis hin zu illegalen Arbeitern), mit der Kontextualisierung der kleinen ökomomischen Einheit Stadt Venedig in den europäischen, den weltweiten Wirtschaftsraum, mit der Darstellung Venedigs als auch Industrie- und Handelsplatz, mit der Unmenge von teils ausführlicher kommentierten Bildstrecken, mit dem Versammlung aller möglicher Betrachtungswinkel, die man vernünftigerweise einzunehmen hat, wenn man über Stadt spricht, mit all diesen kleinen wie jedoch strukturell in Verbindung gesetzten Puzzleteilen kommt die umfassende (erste?!) Bestandsaufnahme wirklich dorthin, wo der Klappentext sie ganz vorne bereits sieht: Die Untersuchung wird am Ende tatsächlich zu einem „Atlas einer globalen Situation“. Und damit kann Venedig als Fallbeispiel für die schleichende internationale Vermarktung und Ausbeutung einer Marke gesehen werden; und es wird klar, wer dafür am meisten zahlt, außer der großen alten Dame.