Gemessen an seiner Größe, ist Venedig wahrscheinlich der meistfotografierte Ort der Welt, die Destination, die man schon kennt, bevor man je dort war “Man kann sie besuchen, ohne hinzufahren”, hat Henry James schon vor genau 100 Jahren geschrieben. Es stimmt mehr denn je. Venedig ist eine globale Chiffre geworden. An der Oberfläche steht die Lagunenstadt für Romantik, Dekadenz und in zweijährigem spielerischem Rhythmus für Kunst und Architektur. Hinter dieser Fassade allerdings geht es um ein viel komplizierteres Spiel. Dessen Regeln aufzuspüren haben sich Wolfgang Scheppe und seine Ko-Autoren zum Ziel gesetzt und diese in einem äußerst dichten Doppelband dargestellt. Das Cover von Migropolis. Venice / Atlas of a Global Situation ist bereits Programm. Es zeigt Gondolieri, die afrikanische Verkäufer von (in großen blauen Müllsäcken verpackten) Fake-Taschen nach San Marco rudern. Darüber liegt ein monopolyartiges Raster, dessen Felder die wichtigsten Stationen der Serenissima markieren: die Mobilität, die hermetischen Grenzen, die (Schatten-)Ökonomie, die Verteilung des Reichtums. Wer wo geboren wird, ist Würfelglück wie im Brettspiel und bestimmt, ob man als Tourist oder als Migrant in die Stadt kommt. Diese beiden großen Strömungen der Gegenwart haben die Studenten von Scheppe, Philosoph und Professor an der dortigen Architektur-Uni, dokumentiert. Der “Atlas der globalen Situation” besteht (auch) aus speziellen Stadt- und Landkarten, die die Ungleichgewichte und Strukturprobleme veranschaulichen. Fast 2000 Fotos illustrieren die Befunde. Sie korrigieren das gängige Venedig-Bild in frappierender Schärfe. Sie zeigen den täglichen, durch Kreuzfahrtschiffe noch verstärkten Wahnsinn an den sogenannten Sehenswürdigkeiten ebenso wie die systematische Bekämpfung der Einwanderung. Die beiden Migropolis-Bände, Kataloge zur gleichnamigen Ausstellung, sind mit ihren 1344 Seiten sicher kein Reisebegleiter. Umso mehr aber Lektüre zum bessere Verständnis dieser und anderer Städte - ohne dass man hinfahren muss.