Jährlich suchen 20 Millionen Touristen die Stadt heim, viele Venezianer flüchten vor den Massen – nun wohnen nur noch 60 000 dort Venedig – Wenn in Venedig die Mittags-glocken läuten und die Anbieter auf dem Rialto-Markt ihre Waren billiger abgeben, breitet sich Alltagsstimmung über der Lagunenstadt aus. Was dem Besucher an einem spätherbstlich anmutenden Novembertag so ganz typisch erscheint, wird dem Einheimischen jedoch zunehmend fremder. Noch im Jahr 2000 gab es etwa im Dorsoduro-Viertel jenseits der Accademia-Brücke mehrere Metzger, einige Gemüsehandlungen, dazu Blumengeschäfte und Bäcker. Heute kann man hier nur noch Glaswaren aus Murano oder Andenken „Made in China” kaufen. Oder eine wabbelige Fast-food-Pizza erstehen. Eine Deutsch-Italienerin wie Christina Permutti, die hier jahrelang gern gelebt hat, hat inzwischen der Lagunenstadt den Rücken gekehrt und ist weggezogen: „Bei uns im Viertel ging ja nichts mehr.”

Sie ist nicht die Einzige. Im Schaufenster der Farmacia Morelli am Campo San Bartolomeo blinkt eine elektronische Anzeigetafel. Sie zeigt mit roten Ziffern den Stand der gemeldeten Einwohner Venedigs im historischen Zentrum an. Gestern, am Donnerstag, waren es 59 993. Vor fünfzehn Jahren zählte man noch 73 000 und 1951 gar 174 000 Einwohner. Retten sich die Venezianer von ihren sinkenden Inseln und dem jährlich wieder-kehrendem Acqua Alta auf das Festland?

Nein, die eingesessenen Venezianer, die „venessiani de Venessia” fliehen vor anderen Fluten: die der steigenden Grundstücks-und Wohnungspreise, die wiederum durch eine unbegrenzten Tourismuswelle hervorgerufen werden. Und wo es keine Einwohner mehr gibt, braucht man auch keine Geschäfte, keine Kinos, keine Arztpraxen oder keine traditionelle Buchhandlungen wie die Libreria Tarantola am Campo San Luca, die seit einem Jahr geschlossen ist. Die Ausstellung „Migropolis” in der Fondazione Bevilacqua am Markusplatz unterstreicht eindrucksvoll, wie unter der Touristenschwemme von rund 20 Millionen Menschen im Jahr die Stadt sich zunehmend selbst entfremdet. Zugleich wachsen die Instandhaltungskosten für die historischen Palazzi, die Wind, Wetter und Hochwasser ausgesetzt sind. Sie reißen immer größere Löcher in die Kassen der Gemeinde. Bürgermeister Massimo Cacciari rechnet vor, dass die Stadt dafür 70 Millionen Euro im Jahr benötigen würde, vom italienischen Staat mit Sondergesetzen aber nur mit 28 Millionen Euro unterstützt werde. Ein Marketing-Büro, das seit einigen Jahren aktiv ist, kann immerhin zwölf Millionen Euro beisteuern. Aber schon rümpfen Touristen und einheimische Puristen die Nase über die großen Reklametafeln rund um den Dogenpalast zur Finanzierung der Restaurierung der Fassaden. Und als gar Coca-Cola gestattet werden sollte, im Zentrum Automaten vor allem an den Vaporetto-Anlegern aufzustellen, gab es einen Proteststurm im In- und Ausland.

Es ist ein Teufelskreis. Die Stadt hat kein Geld, stützt sich auf einem schwachen Wirtschaftszweig wie den Tourismus und verliert qualifizierte Arbeitskräfte. Immer mehr Berufszweige wandern ab: Rechtsanwälte, Architekten, Lehrer, Computerspezialisten. Diejenigen, die in der Hauptstadt der Region Venetien arbeiten, müssen in überfüllten Zügen und Bussen einpendeln. Der Urbanist Stefano Boato, der an der Universität Ca’ Foscari lehrt, plädiert dafür, wieder mehr Wohn- und Arbeitsräume im Zentrum von Venedig zu schaffen. An der Lagune sei ein großes intellektuell wie handwerklich hochqualifiziertes Arbeitspotential vorhanden, das man halten oder zurückgewinnen müsse. Stattdessen habe man die Privateigentümer bestärkt, Wohnungen in noch mehr Hoteleinrichtungen zu verwandeln. Oder in Billigunterkünfte wie Bed & Breakfast, die in den vergangenen Jahren wie Pilze aus dem Boden geschossen sind.

Die Anwältin Paola Nardini, zugleich Honorarkonsulin der Bundesrepublik Deutschland in Venedig, führt die Abwanderung der Venezianer auf ein „geringeres kulturelles Interesse besonders unter Jugendlichen bei hohen Kosten” zurück. Doch statt Arbeitsplätze außerhalb des Tourismus zu schaffen, streicht man sie im Bildungsbereich. Mitte November besetzten Studenten der venezianischen Universitäten symbolisch Räume der Biennale am Arsenal, um gegen die von Rom geplante Schließung der Fakultät für Design und Kunst der Hochschule für Architektur zu protestieren.

Mitte November war auch die Zahl der gemeldeten Einwohner zum ersten Mal unter 60 000 gerutscht. Und als man hochrechnete, dass im Jahr 2038 der letzte Venezianer im Zentrum „ausgestorben” sein könnte, inszenierten Mitglieder des Sozialnetzes „Venessia.com” eine symbolische Totenfeier ihrer Stadt. Sie fuhren mit einem fuchsienfarbigen und mit Blumen geschmückten Sarg aus Pappmasché vom Bahnhof Santa Lucia auf einer gondelartigen Caorlina über den Canal Grande zum Rathaus Ca’ Farsetti. Stadträtin Mara Rumiz, zuständig für die demographische Entwicklung, gab anschließend zu bedenken, dass der Bevölkerungsrückgang, der über dreißig Jahre lang dramatisch verlaufen sei, sich zuletzt beruhigt habe. Das Problem aber sei den Stadtoberen wohl bewusst. Es gehe darum, so Bürgermeister Cacciari, die Eigenkräfte Venedigs zu stärken. Dazu gehört auch, dass Venedig die erste Stadt Italiens ist, die ihren Bürgern kostenlos einen Wi-fi-Internetanschluss bietet – Touristen müssen zahlen.

Die Protestgruppe von Venissia.com wollte keine Untergangsstimmung verbreiten. Aus dem Sarg zauberten sie bei ihrer Aktion vor dem Rathaus die Karton-Silhouette eines Phönix. Venedig werde, so hoffen sie, schließlich wie Phönix aus der Asche wiedererstehen.