Die Studie «Migropolis» analysiert die Touristenbewegungen und Migrationsströme von Venedig Wer eine Foto des Canal Grande mit seinen prächtigen Fassaden und eindrucksvollen Kuppeln betrachtet, kommt kaum umhin, an die wunderbaren Veduten Francesco Guardis oder Canalettos zu denken. Die Bildfindungen der Maler des Settecento haben nicht nur die Wünsche zeitgenössischer Reisender nach idealisierten Stadtansichten wirkungsvoll bedient; ihre Gemälde haben sich unweigerlich in das kollektive Bildgedächtnis eingeprägt und lenken unsere Wahrnehmung bis heute, so dass wir dazu neigen, von der Realität einzufordern, was unsere Idealvorstellung vorgibt.

Dekonstruktion des Idealbilds

Dieser Mechanismus hat Konsequenzen für die Realpolitik der Stadt: Angesichts der überragenden Bedeutung des globalen Tourismus arbeiten die Stadtväter Venedigs seit langem daran, den Erfordernissen des touristischen Blicks nachzukommen und das pittoreske Image aufrechtzuerhalten. Der globale Wettbewerb um die Gunst des Publikums führt dazu, dass die Verantwortlichen dieses Bühnenbild sorgsam pflegen und perfektionieren. Die mit Digitalkameras bewehrten Touristen kümmert es wenig, dass viele der Palazzi leer stehen und dass Venedig seit Jahrzehnten mit einem drastischen Bevölkerungsschwund zu kämpfen hat, mit der Folge, dass das Missverhältnis zwischen Einwohnern und Besuchern immer groteskere Dimensionen annimmt.

Auch das Umschlagbild der zweibändigen Studie «Migropolis», die von Wolfgang Scheppe und seinen Architektur- und Designstudenten der IUAV-Universität von Venedig verfasst wurde, ziert eine klassische Stadtansicht. Auf den zweiten Blick wird jedoch klar, dass es in diesem «Atlas einer globalen Situation» um die Dekonstruktion jenes idealisierten Bildes geht: Im Vordergrund der Aufnahme ist eine Gondel zu sehen, die eine Gruppe illegaler Immigranten mit ihren in blauen Plastiksäcken verpackten spärlichen Habseligkeiten über den Kanal befördert. Die Foto ist Auftakt und Programm einer wissenschaftlichen Untersuchung, deren Methode darin besteht, im Erscheinungsbild der Stadt ihre wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Situation zu lesen. In den Bildunterschriften wird dann ein Zusammenhang zwischen Bild und Realität hergestellt. Daraus resultiert eine Art emblematischer Lektüre. Neben den kommentierten Bildessays finden sich eine grosse Anzahl von Diagrammen und kartografischen Darstellungen, Interviews mit Bewohnern und Besuchern sowie Texte zu verschiedenen Themen. In erster Linie aber sind es die Bilder, die – zum Sprechen gebracht – Aufschluss über das wahre Gesicht der Stadt geben. Dank diesem ingeniösen methodischen Kunstgriff gelingt es Scheppe und seinen Mitarbeitern, den idealisierten Bildern in unseren Köpfen eine visuelle Dokumentation der Wirklichkeit entgegenzuhalten.

Die Autoren von «Migropolis» analysieren Venedig als Prototyp einer Stadt im Zeitalter der Globalisierung und implizieren damit, dass ihre Befunde sich auf jede andere (europäische) Stadt übertragen lassen. Im Zentrum ihres Interesses steht die Analyse zweier Formen der Mobilität, die durch die Globalisierung multipliziert worden sind: Die Kehrseite des Freizeittourismus bildet die illegale Immigration aus Ländern der Dritten Welt, die mit ihren bei den Ferienreisenden beliebten fliegenden Ständen oder aber als billige Arbeitskräfte in den Haushalten der Stadt inzwischen eine beträchtliche Schattenwirtschaft ausmacht. Der für die Situation charakteristische Dualismus zeigt sich aber nicht nur in dieser biopolitischen Segregation, sondern auch in der Topografie der Stadt: Der pittoresken Altstadt steht auf der Terra ferma eine hochindustrialisierte, zersiedelte und urbanisierte Landschaft gegenüber, deren Infrastruktur das Phantom Venedig wenigstens als Erscheinung am Leben erhält. Diese territoriale Logik der Stadt der Gegenwart hat im Übrigen auch die internationale Denkmalpflege seit längerem als Problem erkannt. Der Musealisierung der Innenstädte auf Kosten ihrer Bewohnbarkeit steht jedoch auch sie machtlos gegenüber. Erforschung der medialen Bilderflut Methodisch orientiert sich «Metropolis» an der situationistischen «dérive», der es mit vergleichbaren Mitteln darum ging, durch das Rapportieren von Streifzügen durch die Stadt hinter dem Erscheinungsbild die politischen und sozialen Zusammenhänge sichtbar zu machen. In «Migropolis» wird die Schnittstelle von Soziologie und Städtebau in bis jetzt kaum bekannter Breite bearbeitet. John Ruskin oder Georg Simmel sind weitere Autoren, die explizit als theoretische Vorläufer bezeichnet werden.

Die Feldforschung am Körper der Stadt, die Erstellung eines gigantischen Bildarchivs und dessen (partielle) Präsentation in Form eines Bilderatlas erinnern aber auch an das Vorgehen von Robert Venturi, Denise Scott Brown und Steven Izenour im Klassiker «Learning from Las Vegas », der wie «Migropolis» aus einem universitären Forschungsprojekt mit Architekturstudenten hervorging. Diese Form der «instant archeology » zeigt, dass das Stadtbild weit mehr als nur ästhetische Gesichtspunkte anrührt und zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der medialen Bilderflut anleitet. «Migropolis» löst diesen Anspruch auf exemplarische Weise ein.