Die Ausstellung „Migropolis“ in der Fondazione Bevilacqua in Venedig

Warum fotografieren die Menschen, wenn sie einen Ort erreicht haben, den sie wenigstens für halbwegs sehenswert halten? Was treibt sie dazu, sich in Venedig vor eine Gondel zustellen, auf die Seufzerbrücke, auf den Markusplatz, um sich ein Bild von sich selbst zu machen – oder sich eines machen zu lassen? Es reicht ihnen offenbar nicht aus, zu dieser Zeit an diesem Ort zu sein. Es ist ihnen nicht genug, wenn sie sehen, hören, riechen, dass sie sich hier und nicht irgendwo anders aufhalten. Nein, beides bedarf der Bestätigung, der Mensch und der Ort, man muss sich ihrer symbolisch bemächtigen. Das ist so, weil weder das eine noch das andere gewiss ist. Im Bild, im Zeichen soll beides zu sich und zueinander kommen. Und das bedeutet, vor allem anderen, dass sinnliche Gewissheit offenbar erst durch ihre mediale Vermittlung entsteht.

Der gespiegelte Markusplatz

Die Räume der Fondazione Bevilacqua liegen im hintersten Winkel des Markusplatzes, der Eingang verbirgt sich im Halbdunkel der Galerie. Hier wird die Ausstellung „Migropolis. Venice – Atlas of a Global Situation“ gezeigt, die Wolfgang Scheppe, Philosoph an der Architektur-Universität von Venedig (IUAV), zusammen mit seinen Studenten im Lauf dreier Jahre geschaffen hat. Und war schon das gleichnamige Buch (siehe SZ vom 8. Oktober) ein seltenes Beispiel dafür, was sich mit den Mitteln der Fotografie, der Graphik und des Essays erreichen lässt, nämlich eine ebenso vollständige wie analytische Bestandsaufnahme eines internationalen Sehnsuchtsortes unter den Voraussetzungen einer radikalen, weltumspannenden Geldwirtschaft, so ist die Ausstellung noch etwas anderes: politische Kunst. Und mehr: eine Demonstration, wie politisch Kunst sein kann und wie unpolitisch alles ist, was gemeinhin als politische Kunst deklariert wird. Gewiss, in der Ausstellung sind viele (bei weitem nicht alle) Fotografien zu sehen, die auch im Buch enthalten sind. Aber die Voraussetzungen sind anders. Denn nach der Besichtigung verlässt der Besucher die Räume der Stiftung und tritt hinaus auf den Markusplatz – um genau das zu sehen, was er auch in der Ausstellung betrachtete: die Senegalesen, die auf weißen Tüchern ihre imitierten Markentaschen ausgebreitet haben, die Einwanderer aus Bangladesch, die kleine, mit Mehl gefüllte Beutel anbieten, die chinesischen Touristen, die sich selbst vor romantischer Kulisse fotografieren. Und doch haben sich die Bedingungen des Sehens verändert.. Denn der Besucher weiß jetzt, was er sieht, weil er das Bild gesehen (und die Legende gelesen) hat. In der Verdopplung des Gesehenen kehrt sich der Blick um und richtet sich nun nicht mehr auf das Bild, sondern zurück auf das Fotografierte. Und der Besucher sieht alles, was er kennt, aber er sieht es jetzt neu, mit Verstand.

Man könnte dieses Verfahren an allen Orten von symbolischer Bedeutung praktizieren. In Venedig aber trifft es auf ideale Voraussetzungen. Denn es ist ja nicht wahr, dass der Tourist von einem Ort zum anderen fährt, um etwas Neues zu sehen. Tatsächlich reist er, um zu sehen, was er schon kennt, und die 21 Millionen Menschen, die in jedem Jahr kommen, um auf der Piazza San Marco zu stehen, bringen ihre Bilder dieses Platzes schon mit (wonach die selbstgemachten Bilder dann Belege der vollzogenen Gleichheit sind). Und auch der Senegalese, der, nach Überwindung schlimmster Gefahren, nach Venedig kommt, weil er fest davon überzeugt ist, dass in Europa nur Herrenmenschen leben und er einer von ihnen sein kann, kennt die Stadt nur als Postkarte, als immer wieder überraschend kleines ikonisches Repertoire ihrer selbst. Für beide reduziert sich Venedig auf wenige Merkmale, die der Bestätigung harren. Die Ausstellung aber zerstört diese Fixierung. Sie öffnet den Blick. Sie tut tatsächlich, was die ästhetische Moderne seit ihrem Beginn vor hundert Jahren immer nur verspricht: Sie bricht Muster der Wahrnehmung auf.

Wolfgang Scheppe und seine Mitarbeiter haben alles getan, um ein solches Brechen zu ermöglichen. Sie haben ihre Fotografien ohne Rahmen unmittelbar auf die Wände fixiert. Denn Rahmen hätten sie aus der Umgebung herausgehoben, sie zu Kunstwerken gemacht und die Umgebung zurück gedrängt, während doch alle darauf ankommt, hinter den gebrochenen Mustern wieder die Wirklichkeit zu erkennen. So aber, in all ihrer dokumentarischen Schlichtheit, funktionieren sie als plötzliche, „wie aus der Pistole geschossene“ (Friedrich Schelling) Identität, dienen unmittelbar der intellektuellen Anschauung.

Das Künstliche der Datenbilder

Umgekehrt haben sie die Graphiken, in denen Reisewege und Einkommensverhältnisse, Grenzübertritte und Polizeimaßnahmen, ökonomische Infrastruktur und Konsum-verhalten dokumentiert sind, in scheinbar einfachen Rahmen aufgezogen, als ironische Referenz an das Künstliche solcher Datenbilder. Und auch die Serialität der Fotografien, die langen Bildfolgen, haben einen Zweck: In dem sie ein Ereignis in seinem Verlauf schildern, verhindern sie, dass es als Bildselbständig wird. Mit ästhetischen Mitteln, die an Guy Debord und die Idee der „Situationisten“ erinnern, unter Anwendung aller Kunstrichtungen und Techniken, revolutionäre „Kraftfelder“ entstehen zu lassen, wer- den so Evidenzen geschaffen – transportable, mit allen Merkmalen des Authentischen ausgestattete Beweise, die wie von allein einen Weltzustand offenlegen. Oder genauer: die den Kopf mit dem Stoff versorgen, den er zum Denken braucht. Und ihn dann allein lassen, denn denken kann er ja selbst. Denn dies ist ja das Elend der politischen Kunst, so wie wir sie kennen: dass sie sich, von Isa Genzken über Luigi Nono bis zu Juli Zeh, im Aufzeigen von wirklich erträglichen Zuständen erschöpft, dass sie meint, es sei genug, das Elend zu demonstrieren – um sich dann, beschwörend, anklagend, verlangend an die Politik oder an die Weltöffentlichkeit zu wenden, auf dass sich die Verhältnisse verändern. Was sie natürlich nicht tun, aber darauf kommt es ja gar nicht an, weil sich das gute Gewissen des Widerstands längst eingestellt hat.

Der politische Appell mit ästhetischen Mitteln ist also das Gegenteil von politischer Kunst, und das überraschend Neue, der überlegen analytische Charakter von „Migropolis“ ist daran zu ermessen, in welchem Maß die Ausstellung auf Evidenz setzt, so sehr, dass sie gegenüber dem Buch sogar auf einen großen Teil der erläuternden Texte verzichtet. Am Ende, nach zwei oder drei Stunden, hat man eine Anschauung, nicht nur einen Begriff davon, wie sich das Geld die Stadt unterwirft, wie der materielle Überfluss in den westlichen Ländern die andere Seite zur Armut in der Dritten Welt ist, wie die beiden größten Wanderungsbewegungen der Gegenwart, der Tourismus und die illegale Einwanderung, aufeinander bezogen sind – und was diese Stadt in alledem bedeutet, einschließlich der Industriewüste auf der „terra ferma“, die zur globalisierten Metropole Venedig gehört, wie die Brachflächen von New Jersey zu Manhatten gehören. Denn jedem Willen Veränderung zur hat ein Bewusstsein davon vorauszugehen, was Sache ist.

Ein Zeichen ist Venedig geworden, eine Realabstraktion. Auf eine Handvoll Bilder ist sie reduziert, der Rest findet sich ins Atmosphärische verwandelt. Die Fotografie, die der Tourist von seiner eigenen Anwesenheit in dieser Stadt macht, ist Beleg dieser Metamorphose, die gigantischen Werbeplakate, wie sie gegenwärtig einen großen Teil des Dogenpalastes um spannen, sind Ausweis der innigen Verwandtschaft des Bilderkults in Werbung und Stadt; in der Marke, im zum Logo gewordenen Auftritt finden beide zusammen. „Migropolis“ aber ist moderner Bildersturm, im Zurücklenken des Blicks vom Bild auf das Abgebildete, in den Geschichten der Einwanderer, denen die Stadt ja weniger zum Erlebnis als zum Gebrauch dient, zuletzt aber auch im Insistieren darauf, dass hinter oder unter der „Gesellschaft des Spektakels“ (Guy Debord) noch eine andere Stadt liegt, ein Ort, der noch nicht Bild seiner selbst ist. An seiner Schönheit besteht kein Zweifel.