«Die Erkenntnis der Städte ist an die Entzifferung ihrer traumhaft hingesagten Bilder geknüpft», schrieb Siegfried Kracauer 1931. Die Aufgabe, die er damit implizit stellt, ist nach wie vor eine aktuelle, vor allem, wenn man sich nicht damit begnügen will, sich jenen Bildern hinzugeben. Wie aufschlussreich eine solche Entzifferung gerade dann ist, wenn die Verführung zur Hingabe besonders groß ist, zeigt Migropolis. Venice/Atlas of a global Situation, gerade bei Hatje Cantz in zwei Bänden im Schuber erschienen. Ein fulminantes Werk. Ein 2006 an der Universität begonnenes Forschungsunternehmen hatte das Ziel, ein Venedig zu entdecken, das jenseits der traumhaft hingesagten Bilder existiert, das aber notwendig ist, um diese Bilder am Leben zu erhalten. In Fallstudien, analytischen Beobachtungen, die kartiert, in Grafiken umgesetzt, durch Fotos illustriert werden, zeigt eine von Wolfgang Scheppe geleitete Gruppe von Studenten Venedig als einen Ort, der intensiv in ein Netz globaler Abhängigkeiten eingebunden ist. Die Stadt als Ereignis, in Events immer neu inszeniert und in selbstreferentiellen Rückkopplungen zu einem Produkt seiner selbst geworden, wird in situationistischer Lesart interpretiert. Das ist die eine Seite des zweibändigen Werks, das zu einer Ausstellung erschien, die noch bis zum 08.12. in Venedig zu sehen ist. Gezeigt werden aber auch die illegalen Bewohner, die informellen Märkte, ökonomische Parallelwelten, die Schichten globaler Identitäten, die sich in Venedig entdecken lassen. Venedig ist nicht nur ein Palimpsest eines sich selbst stets neu überschreibenden Mythos, sondern auch ein Knotenpunkt globaler Ströme und Bewegungen, von Touristen, von legalen und illegalen Migranten, die an diesem Mythos teilhaben wollen, die ihn mitproduzieren und die von ihm profitieren wollen. Es wird gezeigt, dass gerade dieser scheinbar so einzigartige Ort einer ist, der nur als globale Situation entziffert werden kann.