1912 war es, dass Thomas Mann den geachteten Schriftsteller Gustav von Aschenbach nach Venedig reisen ließ, wo er ihn der persönlichen Krise und der Schönheit des Knaben Tadzio aussetzte. Die entwürdigenden Erfahrungen eines aus den Fugen geratenden Lebens und einer nicht vorgesehenen Liebe finden, mehr oder weniger, ihre grausige Entsprechung in der äußeren Wirklichkeit in Gestalt einer Cholera-Epidemie, der von Aschenbach schließlich zum Opfer fällt. 1970 steckte der italienische Regisseur Luchino Visconti den Schauspieler Dirk Bogarde in der Rolle dieses (oder doch eines ähnlichen) von Aschenbach in seiner Adaption von »Tod in Venedig«, und ließ ihn, begleitet von den Klängen des Adagietto aus Gustav Mahlers 5. Sinfonie, in der Gondel und zu Fuß diese eigenartige Stadt durchqueren. Im Sommer 2006 oder 2007 schließlich dürfte es gewesen sein, dass ich selbst für eine Woche dorthin gelangte. In der Novelle plappert ein Fahrkartenverkäufer: »Ah, Venedig! Eine herrliche Stadt! Eine Stadt von unwiderstehlicher Anziehungskraft für den Gebildeten, ihrer Geschichte sowohl wie ihrer gegenwärtigen Reize wegen!«1 Soweit es mich betrifft, schlug der Versuch, in den Genuss dieser Reize zu gelangen zwar nicht eigentlich fehl, im Gegenteil. Das Vergnügen am sattsam bekannten, süßlichen, romantisch-melancholischen Venedig ist mir ja gar nicht fremd. Und doch, vielleicht nicht erst, als ich dann im Dogenpalast vor Tintorettos »Paradies« stand, beschlich mich einmal mehr die Ahnung, dass ich selbst womöglich nicht das Zeug zu einem jener »Gebildeten« haben könnte. Von der Schaulust und Konzentrationsfähigkeit war nicht unbedingt soviel übrig geblieben, wie ich es mir vielleicht gewünscht hätte. Der ganzen Sache hing etwas Zwanghaftes an. Es bedarf eben einer nicht zu unterschätzenden Anstrengung, um das, was man an so einem Ort vorfindet, mit jenem Ort zu vermitteln, der den gleichen Namen trägt, aber nur in der eigenen Vorstellung existiert. Überflüssig zu betonen, dass es mir meist nicht gelingt. Eine jüngst erschienene Publikation nun, auf die ich an dieser Stelle aufmerksam machen möchte, scheint mir sehr geeignet, dieser inneren Wirklichkeit einen wirklich überfälligen Blick auf die äußere zur Seite zu stellen. Überfällig insofern, dass man darin eine Menge spannendes und aufwühlendes Material finden kann, wenn man richtigerweise den Anspruch an sich stellt, nicht nur dem eigenen inneren Monolog hinterherzugrübeln bis sich die nächste Ablenkung einstellt »Migropolis Venice/Atlas of a Global Situation« bietet nicht die üblichen, leicht verdaulich aufbereiteten historischen Reiseführerfakten über die morbide Lagunenstadt, die übrigens wirklich vom Untergang bedroht ist.2 Das Buch beschäftigt sich, der Titel deutet es bereits an, mit jenen Menschen, Dingen und Eindrücken, die sich mehr oder weniger irritierend in den Blick desjenigen schieben, der heutzutage, und vielleicht ohne groß darüber nachgedacht zu haben, mit einer am »Tod in Venedig« in der einen oder anderen Form gebildeten Erwartungshaltung nach Venedig reist. (Wobei so naiv natürlich niemand sein kann.) In zwei dicken Bänden voller Fotos, Grafiken, Kommentare, Texte und Interviews in englischer Sprache, die im Rahmen eines drei Jahre dauernden Forschungsprojektes von Künstler/innen, Wissenschaftler/innen und Studierenden der IUAV Universität Venedig (einer Hochschule für Architektur, Urbanistik, Kunst und Design) zusammengetragen wurden, tritt einem hier ein anderes, zeitgenössisches Venedig entgegen. Es ist eine Art Weltgesellschaft in der Nussschale. Im Mittelpunkt stehen dabei jene Menschen, die auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen ihre verarmten Herkunftsländer in Richtung Europa verlassen, und sich, falls die gefährliche Reise glückt, mit Hilfe von Souvenirverkauf, kleinkünstlerischen Darbietungen, chinesischer Kalligraphie, Altenpflege, Haushaltsarbeit, Gastronomiejobs, ungelernten Bautätigkeiten oder Straßenhandel mit gefälschten Designerlederwaren, Regenponchos und Schirmen, eine gesicherte Existenz aufzubauen versuchen. Dazu werden sowohl Mikro_ und Makroebene der Migration, als auch ein Teil ihrer kulturellen und politischen Bedingungen und Folgen in Venedig untersucht. Besonders gerne habe ich die Fallstudien gelesen, in denen Einzelpersonen, Arbeitsmigrant/innen zumeist, aber auch Studierende und ein paar Reisende, durch ein Interview und einen Fotoessay die Möglichkeit bekamen, ihre Lebensumstände und ihre Sicht der Dinge zu schildern. Einen breiteren Hintergrund liefern dazu zahlreich Bilder, Kommentare, Kartierungen und Grafiken, die allerdings nicht immer leicht zu verstehen sind, wenn man, wie ich, kein Soziologe ist. Man behandelt dabei einerseits Zusammenhänge aus dem Bereich der politischen Ökonomie, z.B. die sich verändernde Zusammensetzung der Weltwirtschaft, die globale Verteilung von Armut und Reichtum, Sterblichkeitsraten, die EU-Flüchtlingspolitik und das Treiben der europäischen »Grenzagentur« Frontex, die sich weitestgehend demokratischer Kontrolle entzieht und bei der militärische, polizeiliche und geheimdienstliche Aufgaben eine ungute Melange eingehen. Andererseits richtet sich der Blick auch auf eher kulturelle Zusammenhänge wie den Massentourismus, Xenophobie, Stadtbilder, kulturelle Selbstverständnisse, etc. Mehrere kleine Essays (insgesamt rund 40 Seiten), verfasst vom Herausgeber Wolfgang Scheppe, Valeria Burgo und dem bekannten Philosophen Giorgio Agamben bieten geistesgeschichtliche Spaziergänge und liefern ein paar gesellschaftstheoretische Ansätze für eine Beurteilung des Geschehenden. Scheppe greift dabei vor allem auf die Theorien des mir nur vom Hörensagen her bekannten Situationisten Guy Debord zurück und spart nicht an literarischen Bezügen. Agambens Text orientiert sich an Hannah Arendts politischer Philosophie und beschäftigt sich mit der paradigmatischen Stellung des Flüchtlings in der modernen Welt. Mir hat er damit allerdings nicht weitergeholfen. In den Arendt-Texten, die Agamben heranzieht, dreht es sich ja um politische Flüchtlinge, um Leute, die von den Nazis und ihren Handlangern aus politischen Motiven verfolgt wurden. In »Migropolis Venice« geht es aber in erster Linie um Arbeitsmigrant/innen, die vor der Armut geflüchtet sind. Nun kommt in der Armut etwas Politisches zum Ausdruck. Die von Agamben nicht nur implizit vorhandene Analogisierung der EU-Flüchtlingspolitik mit der nazistischen Judenverfolgung halte ich aber für fragwürdig und irreführend.3 »Migropolis Venice« entwirft insgesamt ein differenziertes, deshalb aber nicht weniger beunruhigendes Bild: Hier eine oft brutale, widersprüchliche und inhumane Gesellschaft, deren politischer und wirtschaftlicher Ordnung es nicht gelingt, Armut, Ausgrenzung und unsichere, unfreie und schlechte Lebensbedingungen, die für viele Menschen Realität sind, zu beseitigen. (Man kann ja bekanntlich sogar mit einigem Recht behaupten, dass sie diese immer aufs Neue hervorbringt.) Dort proletarisierte Existenzen aus verarmten Teilen der Welt, die sich, mit unterschiedlich viel Glück, in diesen komplizierten Verhältnissen zäh zu behaupten versuchen. Diese »globale Situation« in beeindruckender Art und Weise dargestellt zu haben, ist eine wichtige und gute Sache, auch, wenn es mir als Aushilfsgesellschaftstheoretiker dabei manches Mal zu kompliziert zugeht. Bleibt halt die Frage, was mit dem ganzen bedrückenden Wissen angefangen wird und anzufangen ist, das hier gebündelt vorliegt. Um die soll es an dieser Stelle aber nicht mehr gehen.

Anmerkungen

Zit. n. Mann, Thomas, Der Tod in Venedig, in: Ders. Sämtliche Erzählungen, Frankfurt/Main 1973, S. 364f.

-1. Wie der Zürcher Tagesanzeiger vom 20.10.2009 berichtet, droht der Stadt wegen des Klimawandels zum Ende des Jahrhunderts eine Hochwasserquote von bis zu 250 Tagen im Jahr. Derzeit liegt diese bei 4 bis 5 Tagen pro Jahr. Der Meeresspiegel steigt, die auf schlammigem Grund errichtete Stadt sinkt ab. Mit Hilfe eines milliardenschweren und ziemlich umstrittenen Bauprojektes namens MOSE (Modulo sperimentale elettromeccanico), dabei handelt es sich um auf dem Meeresgrund liegende Stahltanks, die sich bei Hochwassergefahr mit Luft füllen und zu einem Damm aufrichten sollen.

-2. Vgl. ebd., S. 124: »Before the extamination camps are reopened in Europe (which is already starting to happen), nation-states must find the courage to call into question the very inscription of nativity and the trinity of state/nation/territory which is based on it.«