Venedig als Abziehbild
Michael Schrott / ORF, Austria / 11|11|2009
Der Karneval von Venedig wurde als Touristenfalle reinstalliert. “Man muss darüber erschrecken, dass Venedig ein Abziehbild seiner selbst ist”, sagt Wolfgang Scheppe. Er hat ein gigantisches Archiv aus zehntausenden Venedig-Fotos angelegt. Salonorchester, Tauben, Touristenhorden: Der Markusplatz. Kein anderer Platz der Welt zählt pro Jahr so viele Besucher. Im Schnitt sind es pro Tag 38.000, an Spitzen-tagen während des Carnevals überschwemmen 170.000 Besucher die wenigen Hotspots der Stadt: Rialtobrücke, Markusplatz, Seufzerbrücke. Die Seufzerbrücke übrigens gehört seit vielen Monaten dem Schuhersteller Geox. Denn “Der Schuh der atmet” hat die angrenzenden Fassaden von Dogenpalast und Gefängnis mit riesigen blauen Werbeschildern verkleidet, in der Mitte, gerahmt von Werbefolien, nur noch ein Zitat ihrer selbst, ist ein Stückchen Seufzerbrücke zu sehen. “Die Touristen fotografieren weiter die Seufzerbrücke”, beobachtet der Philosoph Wolfang Scheppe, “und sie übertragen Markennamen massenhaft in ihre privaten Fotoalben, das scheint ihnen gar nicht aufzufallen.”
Venedig-Feldforschung
Der in Venedig lebende und lehrende Wolfgang Scheppe hat im Winter 2006 seine Studenten zu einer Venedig-Feldforschung angeregt, in dessen Verlauf ein gigantisches Archiv aus zehntausenden Fotos, Fallstudien, Bewegungsprofilen und statistischen Daten entstand. Das globalisierte Territorium der Lagunenstadt mikroskopisch seziert und als urbanes Gleichnis erklärt - Migropolis: Ein Buch und eine Ausstellung. Darin etwa zu sehen: Bilder von Bildern. Von den riesigen Werbebildern, die im Bezirk San Marco ein Drittel der historischen Fassaden verhängen. Jedes Monsterplakat bringt 70.000 Euro pro Monat.
Die Bilder sind im Kopf
“Die Touristen bringen ein so starkes Bild der Stadt mit”, sagt Scheppe, “dass solche Beeinträchtigungen unsichtbar bleiben.” Wer nach Venedig kommt, braucht eigentlich ohnehin nichts mehr zu sehen, die Bilder sind im Kopf, abgepaust aus Filmen und Operetten, Eissalon-Dekorationen, Pizzeria- Wandgemälden und Kalenderbildern. Weit über 20 Millionen Fremde kommen jährlich in die Stadt. Und immer mehr auf den immer gigantischer werdenden Kreuzfahrtschiffen. Der größte italienische Kreuzfahrtschiff-Hersteller Fincantieri ist in Venedig zu Hause. Die oft 17 Decks hohen Schiffsriesen wirken in Venedig wie Hochhäuser. Sie tragen Namen wie Carnival Freedom und evozieren damit eine venezianische Tradition, die längst keine ist. Der Karneval wurde erst vor wenigen Jahrzehnten als Touristenfalle neu installiert.
Imitationen weltweit
Venedig wird seinen weltweiten Imitationen immer ähnlicher. Die erste gab es ja schon vor gut hundert Jahren hierzulande im Prater: Venedig in Wien. Noch perfekter ist Venedig heutzutage in Las Vegas mit immer blauem Himmel, weitere Venedigs entstehen in Fernost. Scheppe: “Wenn Venedig sich nur noch als Maschine des Tourismusgewerbes begreift, dann ist es einem Venetian in Las Vegas unterlegen, wenn man die internen Maßstäbe dieses Geschäftsbetriebs anlegt, nämlich die Umsätze pro Quadratmeter. Die Kopien haben mehr Betten als Venedig und sind leichter erreichbar.”
Entvölkerung der Altstadt
In den künstlichen Venedigs der Welt sind auch die eingeborenen Venezianer nicht mehr im Weg. Es sind ohnehin nur noch 60.000, die in der historischen Altstadt leben. Über 200.000 waren es einmal. 80.000 pendeln jeden Tag vom Festland ein: um zu arbeiten oder zu studieren. Wenn die Entvölkerung der Altstadt im bisherigen Tempo anhält, lebt im Jahr 2055 kein einziger Venezianer mehr hier. Von drei heute verkauften Wohnungen werden zwei von Nicht-Venezianern erworben, denn die Immobilien werden ja längst nicht mehr auf einem lokalen, sondern auf einem globalisierten Markt angeboten. In vielen ehemaligen Lebensmittelgeschäften, Tischlereien, Fischhandlungen, Fleischereien, Drogerien, Schusterwerkstätten etc. werden nun Masken, Glas, Buntpapier und Souvenirs verkauft, also alles, was man zum täglichen Leben nicht braucht.
Venezianischen Masken aus Albanien
Doch kann man sich von hier ein kleines Stück Venedig mit nach Hause nehmen? Auch Bilder, Ideen, Traditionen, Produkte und Dienstleistungen unterliegen der Globalisierung: Billiges, angebliches Murano- Glas stammt aus China. Ein Großteil der angeblich venezianischen Masken kommt aus albanischen Werkstätten. Und die Aquarell-Bilder mit Ansichten venezianischer Gondeln, Kanäle und Brücken sind wohl handgemalt, aber in Fabriken in Nord-China.
Vergleichsweise echt sind da noch die Designerhandtaschen von Gucci, Valentino oder Versace. Sie sind von den Markeninhabern nicht autorisiert, stammen aber oft aus den gleichen Werkstätten wie die echten. Angeboten werden sie auf der Straße, ausgelegt auf große weiße Betttücher. Die Verkäufer sind Schwarzafrikaner. Rund 6.000 Immigranten zählt man in der Altstadt, knapp die Hälfte davon illegal. Während der normale Tourist für eine buchstäbliche Handvoll Dollar oder Euro mit dem Billigflieger in Venedig zur Landung ansetzt, zahlen die Immigranten aus Bangladesh, der Ukraine oder dem Senegal ihren Schleppern um die 7000 Dollar.
Militär gegen illegale Einwanderer
Die Immigranten kommen nach Venedig in den Kofferräumen von Reisebussen, in den Laderäumen von Fernlastern und von Schiffen: In jeder Fähre aus dem östlichen Mittelmeer, die in Venedig anlegt, werden im Schnitt 14 illegale Einwanderer gefunden.
Die Immigration in den Schengen-Raum bekämpft die Europäische Union mittlerweile mit einer Sonderagentur namens Frontex sogar schon jenseits der Schengen-Grenze. So waren etwa im vergangenen Sommer auch österreichische Polizisten samt Hubschrauber wochenlang zwischen der griechischen Insel Lesbos und der türkischen Grenze in der Luft, um illegale Immigranten in Schlauchbooten aufzuspüren.
Italien setzt in Venedig jetzt auch das Militär ein. Wolfgang Scheppe bezeichnet deswegen Venedig als Frontstadt: „Wir haben das Projekt Migropolis unter der Prodi-Regierung begonnen und haben es nun abgeschlossen, da sich Fremdenfeindlichkeit und Rassismus als Regierungsprogramm manifestiert haben. Jüngst hat die Lega Nord, die den Innenminister stellt, beschlossen, in Venedig, als erster europäischen Stadt, Militär einzusetzen.”