Venedig als gigantische Shopping-Mall
Gerhard Mack / Neue Züricher Zeitung / 25|10|2009
Touristen und illegale Immigranten verändern das Erscheinungsbild der Stadt. Die alte Serenissima wird zum Brennglas, in dem sich das Zusammentreffen der globalen Wanderströme zeigt.
Dem Besucher gefällt die Maske. Er gehört zu einer Touristengruppe aus China und möchte ein Andenken mitnehmen. Die Karnevalsgesichter stehen auch im Fernen Osten für die Folklore Venedigs und für dessen grosse Kulturtradition. Dass sie in China produziert wurden und der Tourist etwas als scheinbar vor Ort gefertigtes Original zurückbringt, was in Containern als Massenware hertransportiert wurde, will er nicht wissen. Auch nicht, dass der fliegende Händler seine Waren auf Tüchern auf dem Trottoir auslegt, nicht weil das pittoresk wirkt, sondern weil er illegal im Land ist und so sein Angebot schnell zusammenraffen und damit verschwinden kann, wenn die Polizei auftaucht. Der Tourist will die Illusion von Originalität und Schönheit mit nach Hause nehmen, und die Afrikaner verhalten sich entsprechend: Bevor die Besucher kommen, entfernen sie jeden Morgen von Souvenirs, Taschen und Gürteln die gelben Aufkleber «Made in China».
Wie an keinem anderen Ort in Europa treffen in Venedig Touristen und Immigranten aufeinander und prägen das Gesicht der Stadt. In der Lagune entstand am Beginn der Neuzeit das Zentrum des Handels zwischen Europa und Fernost, heute liegt die alte Serenissima im Schnittpunkt der Menschenströme, die von der Globalisierung freigesetzt werden. «Hier lassen sich die Verhältnisse beobachten, die wir in fünfundzwanzig Jahren in vielen anderen europäischen Städten haben werden» sagt Wolfgang Scheppe. Der deutsche Philosoph an der Universität IUAV di Venezia hat mit seinen Studenten drei Jahre lang untersucht, wie der Alltag dieses Zusammentreffens von Menschen aus aller Welt ganz konkret aussieht, welche Formen des Zusammenlebens er bedingt und wie er die Stadt verändert.
Kehrseite der Romantik
Seine Ergebnisse stellt er in einer über 1300 Seiten starken Studie und in einer Wanderausstellung vor, die gerade in Venedig eröffnet wurde. Mehr als 2000 Fotos dokumentieren vom Schaufenster bis zur Brache am Industriestandort Marghera die Phänomenologie der Stadt. Zahlreiche Fallstudien, Statistiken, Tabellen und Grafiken bereiten auf, wie und warum die alte Serenissima zum Brennspiegel der globalen Migrationsströme aus Touristen und illegalen Immigranten wird. Scheppe und seine Studenten zeigen das raue soziologisch-ökonomische Unterfutter der Bilderbuch-Romantik. 20 Millionen Touristen besuchten die Lagunenstadt 2008; auf jeden der gerade noch 60 000 Einwohner kommen über 330 Besucher im Jahr. Das obere Segment reist mit Kreuzfahrtschiffen an, die zu einem Gutteil in Werften des Umlands hergestellt werden. Hätte man sie 2006 alle nebeneinander ankern lassen, hätten sie die Stadtfläche Insel-Venedigs eingenommen, aber neun Etagen hoch. Ihre Reisenden zeigen in Interviews kaum noch Interesse an der Kunst und Architektur der Stadt, sie gehen an Land, um rund um Markusplatz und Rialto die globalen Designer-Produkte zu kaufen. Für sie ist Venedig eine einzige Shopping-Mall, die sich auch als Werbefläche präsentiert. Der Dogenpalast ist derzeit von der Wasserseite her in riesige Banner gekleidet, die von der berühmten Seufzerbrücke gerade noch ein Fenster freilassen. Das Gros der Touristen kommt dagegen morgens mit Billig-Busreisen im Umland an und fährt nachts wieder zurück. Sie kaufen Glaswaren, T-Shirts und Masken, deren Läden die traditionellen Geschäfte und Handwerker vertreiben, weil diese keine vergleichbaren Umsätze erzielen. Ihre Waren müssen so billig sein, dass niemand vor Ort sie produzieren könnte. Eine Untersuchung der Verkaufsstände beim Markusplatz ergab, dass kein einziges Produkt in Europa hergestellt wurde. Der Edel- wie der Billigtourismus braucht die illegalen Immigranten, die zu schlechtesten Bedingungen arbeiten. Sie sind fliegende Händler, waschen in den Restaurants Geschirr und machen in den Hotels die Betten. Sie fliehen aus der Erwerbslosigkeit, welche Kriege und Globalisierung in Afrika, Afghanistan, im Irak und in Balkan-Europa schaffen. Sie sind für den Tourismus unabdingbar und stören ihn zugleich, weil sie an Flüchtlinge und Armut erinnern, die vor den Toren der Festung Europa bleiben sollen. Die Stadt erlässt laufend neue Gesetze; vor kurzem hat sie sogar blaue Plastiksäcke verboten, weil illegale Straßenverkäufer darin Ware transportierten. Gleichwohl prägen Immigranten zunehmend den Alltag. Sie erwirtschaften die höchsten Mobiltelefon- Umsätze Italiens, Western Union lebt von ihren Transferzahlungen an die Familien zu Hause. Selbst die Bars der Stadt werden von Chinesen übernommen.
«Enter only to buy»
Venedig ist aber nicht nur ein Schnittpunkt der globalen Migrationsströme von Tourismus und Flucht. Es exportiert sich als Bild zurück in die globalisierte Welt, deren Menschen es aufsuchen. Der Wiener Prater war einst als Version der Lagunenstadt entstanden. Heute bietet in Las Vegas das Hotel Venetian die bekanntesten Bauten samt Gondoliere als Kulisse; die Türsteher tragen die Uniform der Carabinieri. Und im südchinesischen Macau wurde 2007 eine noch kitschigere Variante des Disney-Venedig eröffnet. Hinter dem Themenpark des Labels Venedig verschwindet die reale Stadt, ganz im Sinne Jean Baudrillards und seiner Provokation, wir lebten demnächst in einer Welt, in der das «Simulacrum» also das Bild und nicht der real erfahrbare, historische Raum, definierte, was wir für wirklich hielten.
Insofern trifft der Spruch, den Geschäfte um den Markusplatz in ihre Schaufenster gehängt haben, auf die ganze Stadt zu: «Enter only to buy» Wer dieser Tage nach Venedig reist, wird von ihm mit etwas Glück fast offiziell empfangen: Studenten des Migropolis-Projekts haben ihn über die Ortstafel geklebt. Ganz in der situationistischen Manier eines Guy Debord, der mit seiner Theorie des Spektakels wesentliche Grundlagen für die Studie gelegt hat. Die Altstadt Venedigs überlebt als gigantische Liveshow für den globalen Tourismus.