Venedig verkommt zur Fassade. 22 Millionen Touristen pro Jahr vertreiben die Einwohner aus ihrer Stadt. Den Bürgermeister schert das wenig. Hilferuf einer Einheimischen. 366 Besucher kommen auf einen Venezianer. Zu viele fuer die Balance der Stadt.

Ort: der Flughafen von Venedig Personen: eine Reiseleiterin, zwei Touristen. Die Reiseleiterin hat die Touristen gerade am Flughafen abgeholt. Jetzt begleitet sie die beiden im Laufschritt zum Anleger des Wasserbusses. Reiseleiterin: Do you know Venice? Touristen (einstimmig): No. Reiseleiterin: Venice is an island. Touristen: Oh! Reiseleiterin: No cars. Touristen (erschrocken): No cars? Reiseleiterin: Only boats. Touristen: Only boats? Reiseleiterin: Just walking. Touristen: Oh God!

Wenn man in Venedig lebt, gibt es wenige Dinge, mit denen man sich unbeliebter machen kann als damit, Touristen als Touristen zu schmähen. In Venedig zu wohnen wird als ein so unerhörtes Privileg betrachtet, dass sich jede Klage darueber verbietet.

Und in der Tat betrachte ich noch nach 20 Jahren das Leben hier mit Demut. So ging es mir auch heute früh, als ich schon um sieben Uhr das Haus verließ: Da gehörte die Stadt noch sich selbst, das Pflaster glänzte feucht, und die Tauben saßen als schwarze Federkugeln im Gesims der Arkaden, wo sie von der Wiedereinführung des Taubenfutters am Markusplatz träumten. In der Calle della Mandola räumte mein mürrischer Gemüsehändler seine Obstkisten in das Geschäft, ohne einen Blick auf den Himmel zu verschwenden, der sich rosafarben über die Palazzi wölbte. Die Straßenfeger kratzten mit ihren Reisigbesen über die Marmorplatten, und ein paar Hundebesitzer fielen verschlafen aus der Haustür und liefen mit Zeitungspapier in der Hand hinter ihren Hunden her. Über den Campo Manin, wo noch kein einziger Tourist sein mitgebrachtes Brot auf den Stufen vorm Denkmal des venezianischen Revolutionärs verspeiste, spazierte hoheitsvoll eine Möwe. Als die Sonne aufging, tauchte sie den Campo, die Straßenfeger und die Marmorbögen der Palazzi in ein unwirkliches Licht, ein goldenes Glühen, in dem die Wolken verdampften, ein Anblick, der fast zu groß war für meine kleine, ungläubige Seele. Und dann kam ich mit meinen Zeitungen nach Hause und musste hören, wie Horch, was kommt von draußen rein, hollahi, hollaho in unsere Wohnung schwappte. Wird wohl mein Feinsliebchen sein, hollahi jaho.

Bis heute Morgen glaubte ich mich einigermaßen gefestigt, was das Liedgut der Gondelfahrer betrifft. Auf unserem Kanal wird von morgens um neun bis abends um elf gesungen und geschunkelt – nicht nur zu Ciao-Venezia-ciao-ciao- ciao, sondern auch zu Hava Nagila oder zu New York, New York. Aber Horch, was kommt von draußen rein hatte ich noch nie gehört. Was auch daran liegen mag, dass die Deutschen bei den Gondelserenaden etwas unterrepräsentiert sind. Ich schloss das Fenster und setzte mich wieder an meinen Schreibtisch. Worin ein eindeutiges Zeichen der Resignation zu sehen ist: In den ersten Jahren in Venedig habe ich mich damit verausgabt, Wasser auf die Sänger der Gondelserenaden zu schu?tten. Damals konnte ich auch noch auf die Unterstützung des Conte Marcello zählen, der am selben Kanal wohnt und ebenfalls Wasser hinunterkippte. Regelmäßig rief er das Ordnungsamt an, um sich zu beschweren. Doch inzwischen hat er aufgegeben. Die Frau des Kunsthändlers gegenüber brachte es sogar fertig, kalte Spaghetti auf die Gondelserenadensänger zu werfen. Aber nach ihrem Tod hat der Sohn die Wohnung an Touristen vermietet, und die Touristen stehen am Fenster und winken den Gondelinsassen freundlich zu. An unserem Kanal wohnt fast niemand mehr, das gegenu?berliegende Kino hat sich in eine Lounge verwandelt, das benachbarte Anwaltsbu?ro in eine Locanda, die Kirche am Campo San Fantin wurde mangels Gemeinde geschlossen.

Unweit der Rialtobrücke, am Campo San Bartolomeo, blinken im Fenster der Apotheke Morelli Ziffern auf einer Anzeigetafel. In Hongkong zählte man die letzten Tage als britische Kronkolonie, in Venedig zählt man die letzten Venezianer. Heute morgen waren es noch 60007. Während ich in meinen Reportagen das Verschwinden der Venezianer ebenso folgenlos wie starrköpfig beklagte, verdreifachte sich die Zahl der Touristen. Im letzten Jahrzehnt stieg sie von sieben Millionen auf 22 Millionen. Die Bevölkerung der Stadt hat sich in den letzten 40 Jahren jedoch halbiert. Auf einen wehrlosen Venezianer kommen also 366 sich nach Venedig verzehrende Touristen. Mein Käsehändler verkauft jetzt Eis, der Fleischer Muranoglas, der Buchhändler am Campo San Luca ist auf kunstgewerbliche Töpferwaren umgestiegen. Der Conte Marcello, die Frau des Kunsthändlers und ich, wir waren Widerstandskämpfer. Aber wir haben unsere Schlacht verloren.

Dabei ist das Problem des dramatischen Einwohnerschwunds längst zum öffentlichen Thema geworden. Gerade wurde am Markusplatz die Ausstellung Migropolis eröffnet, die das Missverhältnis zwischen innerstädtischer Bevölkerung und dem Zustrom von Touristen ausleuchtet. Regelmäßig berichtet die Repubblica über das Aussterben der Venezianer, zuletzt berechnete sie, dass es spätestens im Jahr 2030 keine Einheimischen mehr geben würde. So Gott will, würde ich das noch erleben. Aber wo? Der Venezianer an meiner Seite betrachtet bereits einen Nachmittag auf dem Festland in Mestre als Schicksalsschlag. Wenn er kein Wasser sieht, wird er krank.

Massimo Cacciari, der Bürgermeister von Venedig, hat für solche Empfindsamkeiten nichts übrig. Stattdessen verkündete er, dass die Venezianer damit aufhören sollten, sich selbst zu beweinen. Vielmehr sollten sie versuchen, aus der touristischen Monokultur auszusteigen. Es liege in ihrer Hand, den Dienstleistungssektor nach eigenem Bedarf auszubauen. Der habe bisher leider nicht den Platz jener Unternehmen eingenommen, die Venedig verlassen haben. So sei der Druck des Tourismus unerträglich geworden. Eine zynische Behauptung aus dem Munde eines linksliberalen Philosophen, der die Stadt mit Unterbrechungen seit dem Jahr 1993 regiert.

Denn immerhin geschah es während seiner Amtszeit, dass die Verordnung zum »Umbau von Wohnungen in hotelgewerblicher Absicht« erlassen wurde. Allein in den letzten Jahren wurden 706 neue Lizenzen vergeben. Während der Amtszeit von Massimo Cacciari wurde die Stucky-Mühle, eine ehemalige Kornmühle am Canale della Giudecca und immerhin Venedigs bedeutendstes Industriedenkmal, an den römischen Bauunternehmer Gaetano Caltagirone verkauft. Neue Wohnungen für Venezianer sollten dort entstehen. Tatsächlich wurde die Stucky-Mühle jedoch zu einer Luxushotelanlage samt angeschlossenem Kongresszentrum umgebaut.

Die Benetton-Gruppe kaufte das neben dem Bahnhof Santa Lucia liegende Eisenbahngebäude, in das demnächst ein großes Einkaufszentrum einziehen soll. Und damit der Strom der Touristen direkt vom Bahnhof in die Ladenpassagen fließen kann, beauftragte die Stadt den spanischen Stararchitekten Santiago Calatrava mit dem Bau einer Brücke. Mehr als elf Millionen Euro hat die Konstruktion bisher verschlungen und heftige Kritik ausgelöst.

Zum Ärger vieler Venezianer und der lokalen Künstler, die vergeblich nach Ausstellungsräumen suchen, wurde der Palazzo Grassi an den französischen Multi-milliardär François Pinault verkauft. Er präsentiert dort seine Kunstsammlung und konnte sich an der Punta della Dogana auch noch ein zweites Privatmuseum schaffen. Die Stadt überließ dem Franzosen das ehemalige Zolllager aus dem 17. Jahrhundert für 30 Jahre kostenlos. Im Gegenzug übernahm er die Renovierungskosten: 20 Millionen Euro, wie es heißt. Was eine Monatsmiete von rund 56000 Euro macht. So viel müssen bereits manche Venezianer als Pacht für ein Restaurant bezahlen. Und weil es so schön ist, wurde dem Multimilliardär auch noch eine Vaporetto-Haltestelle geschenkt: Die Linie zwei hält nun auch an der François Pinault Foundation - was die Arbeiter des venezianischen Rialtomarkts erbitterte, die für ihre Haltestelle 20 Jahre lang kämpfen mussten.

Ach, die Venezianer. Manchen sterben sie gar nicht schnell genug aus. Wenn man Massimo Cacciari nach dem Schicksal der Venezianer fragt, dann muss man damit rechnen, dass er einen Wutanfall bekommt. Als ich beim letzten Besuch in seinem Bu?ro wissen wollte, warum es nicht möglich sei, in jedem Stadtviertel eine gewisse Grundversorgung mit Lebensmittelläden zu garantieren, da war er kurz davor, einen Stuhl aus dem Fenster zu Press Reviewwerfen. Der Philosoph Cacciari begreift die Welt als großes Ganzes. Die Antwort auf die kleinen Fragen, warum es zum Beispiel in Dorsoduro keine Gemüseläden gibt, liefert er nicht. Er verweist auf die Marktwirtschaft und das freie Spiel der Kräfte. Angeblich sei anderen Innenstädten das gleiche Schicksal wie dem aussterbenden Venedig beschieden. Nur mit dem Unterschied, sagte ich, dass man sich in Venedig, anders als in Florenz, nicht ins Auto setzen kann, um sich ein Brot oder einen Liter Milch zu kaufen.

Am Ende unseres Gesprächs wollte ich mich jedoch um Ausgleich bemühen. Jeder hat seine guten Seiten. Auch Cacciari. Ich gab ihm Gelegenheit, sich als Retter darzustellen, und erkundigte mich nach dem Schicksal des Fondaco dei Tedeschi, der einstigen deutschen Handelsniederlassung, in der sich die venezianische Hauptpost befindet. In Venedig kursierten bereits Gerüchte darüber, dass sich die Benettons für den Fondaco interessierten. Cacciari legte seine Denkerstirn in Falten und sagte, dass er alles in seiner Macht Stehende tun wollte, um die Hauptpost als Gebäude der öffentlichen Hand zu erhalten. Dann schob er mich aus seinem Büro.

Und jetzt ist der Fondaco dei Tedeschi an die Benetton-Gruppe verkauft worden. Wie es heißt, werde er in eine Luxus-Residence samt zugehörigem Einkaufszentrum verwandelt. Für die Gestaltung habe man den niederländischen Architekten Rem Koolhaas gewinnen können.

Die Einzigen, die sich noch öffentlich über so eine Kungelei empören, sind die 40xVenezia: Aus einem Freundeskreis 40-jähriger Venezianer entstand eine Bürgerinitiative, vulgo ein social network, eine private Vereinigung, die sich zumindest nicht vorwerfen lassen möchte, zum Niedergang von Venedig geschwiegen zu haben.

»Alle reden hier davon, den Touristenfluss zu dezentralisieren, um den Markusplatz zu entlasten«, sagt Chiara Barbieri, die Sprecherin der Initiative. Dabei gehe es eigentlich darum, den Gedankenfluss zu ordnen. Als ich die schöne 40- Jährige, die aussieht, als sei sie einer Erzählung von Giorgio Bassani entstiegen, zum ersten Mal auf dem Campo San Barnabà traf, erkannten wir uns sofort: Venezianer identifiziert man anhand ihres zielstrebigen Gangs und daran, dass sie weder Mineralwasserflaschen noch Fotoapparate in der Hand halten. Dass sie keine Badelatschen tragen, sondern Lederschuhe. Stoffhosen statt Bermudas. Jacketts statt Muscle-Shirts.

Die 40x Venezia waren die Einzigen, die Caciaris Marktwirtschaftstheorie zurechtrückten und öffentlich darauf verwiesen, dass die Stadt bei jedem Verkauf eines Gebäudes ein Einspruchsrecht hat: So hätte der Bürger-meister sehr wohl darauf beharren können, dass ein Teil des Fondaco dei Tedeschi weiterhin als Post benutzt wird. Zusammen mit Umweltschützern protestierte die Bürgerinitiative gegen die Kreuzfahrtschiffe mit ihren 1,2 Millionen Touristen pro Jahr. Die Luxusliner belasten Venedig nicht nur mit Feinstaub und Dioxin, sondern lösen auch enorme Wasserbewegungen aus und bringen durch die ständig laufenden Motoren ganze Stadtviertel zum Zittern. Trotzdem beabsichtigt die Stadtverwaltung, den Hafen ausbauen zu lassen. Ein neues Kreuzfahrtterminal ist geplant.

Venedig ist eine Nutte, sagt mein Freund Alberto, eine ganz billige Nutte! Alberto ist Fischer, ein Fischer, der Kafka und Dostojewskij liest und der einen Hang zu klaren Worten hat. (…)Als es dämmerte, fuhren wir zurück in die Stadt. Alberto war für seine Verhältnisse recht schweigsam. Wir kamen am Ufer unweit des Dogenpalastes vorbei, Venedig sah aus wie ein überfülltes Floß. Die Tagestouristen strömten zu den Ausflugsbooten zurück. Ein Riesenplakat an der Seufzerbrücke warb für Chopard, u?ber das Baugerüst des Dogenpalastes zog sich eine Werbefläche, auf der eine Frau mit Diamantencollier abgebildet war. Und gegenüber, an der Seite der Biblioteca Marciana, wölbte sich ein Hintern für die Guess-Werbung. Mit den Reklameeinnahmen will die Stadtverwaltung die Sanierung verfallener Fassaden finanzieren. »Ist dies das Ende?«, fragte ich Alberto. »Oder kommt alles ganz anders?« Schließlich hat Venedig bereits die napoleonische Eroberung und die österreichische Besatzung überlebt. Warum nicht auch ein paar fehlgeleitete Stadtplaner und einen selbstherrrlichen Bürgermeister? Alberto schwieg.