Wolfgang Scheppe und sein engagiertes Team schaffen mit diesen beiden Bänden ein neues ueberraschendes wie bestuerzendes Bild der traditionellen Kultstadt Venedig, die so als megaloman erfolgreiches Touristik-unternehmen entlarvt wird. Alles an dieser Stadt ist historische Maske, die im globalen Maßstab zu Markte getragen wird. Etwas ueber 60.000 Natives bewohnen den historischen Kern Venedig. Den muessen sie sich an den historischen Anziehungspunkten mit 20 Millionen Touristen im Jahr teilen. Dass dies fu?r einheimischen Unmut sorgt, ist verständlich. Doch u?ber diesen Unmut wird man hinwegsehen, solange das lukrative Geschäft am Laufen ist.

Entschieden mehr fuer Groll sorgen die illegalen Migranten, die um sich zu ernähren und im Lande halten zu können, an einer Schattenwirtschaft in der Grauzone beteiligt sind, die sich nicht an die offiziellen Regeln halten will und auch gar nicht kann.

Wolfgang Scheppe zeigt diesen illegalen Strassenhandel deutlich. Allein der Hintergrund bleibt verwischt. Das Foto Tautology Venice zeigt, wie ein Immigrant aus dem Senegal einem chinesischen Käufer eine Handtasche andreht Selbstverständlich die Copy eines Markenproduktes > Made in China !

Das zeigt allerdings, dass dieser Grauzonenmarkt nicht völlig autopoietic, also selbsterschaffend und selbsterhaltend ist. Da stellt dem Scheppe die Sozialromantik der 68-er ein Bein. Wolfgang Scheppes Vorbild fuer das Projekt war Guy Debord, der Situationist. Er erwähnt ihn gleich zu Beginn seines Prologes. Autopoiesis ist ein Schluesselbegriff in der soziologischen Systemtheorie von Niklas Luhmann, die auf das venezianische Modell des Schleichhandels angewandt mir nicht völlig passend und plausibel erscheint. Meine Kritik soll jedoch den Wert dieser großartigen und engagierten Arbeit von Scheppe & Team keineswegs mindern. Tatsächlich muss es uebergeordnete Verteiler geben, die die kopierte Ware zum Verkauf bereitstellen. Einzelhandel mit der VR China ist schwer vorstellbar. Ich kann daran nichts Autonomes erkennen. Die illegalen Free Lancer duerften eben nur der sichtbare Teil einer Ausbeutungskette sein, deren Nutznießer und Auftraggeber in dieser Studie völlig im Dunklen bleiben. Sie können genauso gut Italiener sein, die Handel mit China treiben und die Illegalität der Zuwanderer ausnutzen, den Lohn bis ans oder unter das Existenzminimum zu druecken. Das Feedback des Erlöses ueber die verkaufte Ware wird kontrolliert sein, mit den dazugehörigen Drohgebärden. Im Vuitton Propaganda War, auf den Scheppe eingeht, werden derartige Hintermänner allerdings in Diskussion gebracht. Es durfte um grosse Summen gehen. Bei 20 Millionen BesucherInnen im Jahr bleibt eine Menge Geld im Schwarzmarkt hängen. Nutznießer solcher Ware sind selbstverständlich auch die Käufer. Das ist Teil der Touristik Aberteuerromantik. Die wirklich Armen im Spiel sind die Einwanderer aus Afrika, aus Asien, aus Bangladesh, aus Moldawien, die so ihr Schattendasein ohne echte Chancen auf Besserung zu haben fristen muessen. Sie sind nicht in die Kriminalität abgesunken, sie wurden bereits durch das Spiel außerhalb der offiziellen Regeln von Beginn an, nachdem sie erstmals venezianischen Boden betreten haben, in eine vorgeformte verdeckte Struktur am Rande der Kriminalisierung eingebunden. Diese Situation haben sie vorgefunden.

Ein Foto zeigt drastisch das Dilemma der Zuwanderer, der Aliens. Ein durchaus saubere Schlafstatt mit Matratze am Boden wird flankiert von zwei Postern. Der eine zeigt bloß eine Ziegelmauer und der zweite die Skyline von Manhattan. Der amerikanische Traum, ausgeträumt in einem Armenquartier in Venedig. Kehren die Aliens in die Länder zurueck, aus denen sie gekommen sind, muessen sie mit empfindlichen Haftstrassen und Repressionen rechnen. Zur Überfahrt nach Amerika, in das gegenwärtige Land der Depression, wird es nie reichen. Sie sind irreversibel in die existenzielle Falle geraten.

Als herausragende Gegner des Schleichhandels erwies sich nicht die örtliche Obrigkeit oder die wirtschaftlichen Dachverbände; zumindest nicht in der öffentlichen Wahrnehmung. Es waren die Gondolieres, die gegen Immigranten und deren Schleichhandel mobil machten. Mehr als hundert Gondeln sperrten Ende Mai 2002 den Canale Grande. Die Gondoliere erklärten, um die venezianische Identität besorgt zu sein. Heimische Identität ist bei allen rechtspopulistischen Parteien ein beliebtes Argument, Fremdenfeindlichkeit voran zu treiben.

Dem Protest der Gondoliere folgte 2005 der Propaganda Krieg gegen die falsche und fu?r die echte Louis Vuitton Ware. Good, dafuer teure Bags anstelle von bad und billigen Imitat Bags. Das kaufende Publikum der Stadt wird ueber die Tricks der Fälscher und ihrer Verteiler informiert. Ich glaube nicht, dass das etwas gebracht hat. Tatsächlich hat das Markengeschäft Venedig ebenso im Griff. Auf großflächigen Transparenten, Billboards, angebracht an den Fassaden von Palästen am Canale Grande, auf dem Marcusplatz selbst, wird nicht mit politischen Slogans sondern fuer Markenprodukte im High Style Format geworben. Der Touristenstrom legitimiert sogar die Abdeckung von historischen Fassaden, obwohl gerade wegen denen nach Venedig gereist wird. Auch das zaehlt bereits zum globalen Stil. Werbung in den urbanen Städten ist unuebersehbar geworden. Daran kommt man nicht mehr vorbei. Am besten, man fotografiert sie mit, um den Stil der Zeit zu wahren.

Der Touristenstrom ergießt sich auf vier Wegen nach Venedig. Einmal ueber die Auto-bahnverbindungen, mittels der Eisenbahn und Flugzeug und ueber den Hafen, den die monumentalen Ozean Passagier Liner, die die Dachlinien der Stadt ueberragen, anlaufen. Zur Weltreise auf dem Traumschiff gehört ein Besuch der Traumstadt Venedig.

Die Aliens, vor allem jene Fluechtlinge, die mit alten Schrottkähnen, desolaten Schlauchbooten das Mittelmeer uebersetzen, um nach Italien zu gelangen, riskieren dabei ihr Leben. Schiffe, die nicht seetuechtig sind, gehen immer wieder mit Frau, Mann und Maus unter. Solches Schicksal kennen wir bereits von den vietnamesischen Boatpeoples, die das Land verlassen haben, nachdem der Vietkong die Macht uebernommen hat. Kommunismus, Armut und Not entbehren jeglicher Anziehungskraft. Ihr Schicksal und ihr Tod bleibt anonym. Niemand kuemmert sich um unbekannte Fluechtlinge.

Die Anziehungskraft des wirtschaftlich potenten Nordens ist so groß, dass dafuer der Kopf aufs Spiel gesetzt wird. Wie groß muss da die Armut des Suedens sein. Jene, die nicht im desolaten Schiff scheitern, muessen mit FRONTEX, dem European Border Regime, Europaeische Agentur fuer die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen, rechnen, die auch eine Art europaeische Kuestenwache beinhaltet, die vor allem im Mittelmeer zum Einsatz kommt. Mit brutalen wie fatalen Mitteln werden Aufgebrachte zum Stop bzw. zur Umkehr gebracht. Hilfsorganisationen gehen davon aus, dass im Jahre 2006 durch den europäischen Sicherheitswahn 6000 Personen auf ihren Fluchtwegen und Routen ums Leben gekommen sind.

Der Westen mauert sich ab. Die USA im Sueden gegen Mexiko, in Europa mittels des Schengenverbandes und der Frontex. Israel hat gesamtheitlich eine Mauer um sich gezogen. Europa ist bloß die Teilfestung eines größeren Ganzen im Nordatlantischen Pakt. Seit der Zerstörung der Twin Towers in New York kontrollieren die USA die Anreisenden besonders streng.

Besonders bemerkenswert an der Arbeit des Teams von Wolfgang Scheppe ist die Erweiterung des Kontextes ueber die Ikonen des Tourismus Prospektes und der klassischen Venedig Darstellung in unzähligen Fotobänden hinaus, wie sie noch unendlich in der Commissario Guido Brunetti TV Serie nach Donna Leons Krimis, weiter verwalzt wird, die Einbindung der industriellen Vororte Mestre und Marghera, die dem traditionellen Venedig Bild eine weitere und ueberraschende Perspektive im Kontrast verleihen. Marghera ist der Standort von Fincantieri, eine der größten Schiffswerften und Traumschiff Hersteller Italiens und der Welt. Allerdings, Press Reviewdas klassische Venedig Bild wird seinen Glanz nicht verlieren, solange die Stadt noch steht. Selbst der Verfall kann das anhaltende Interesse nicht bremsen. Im Gegenteil, es wird dadurch noch verstärkt. Morbidität erscheint attraktiv.

Es ist anzunehmen, dass die Ausstellung und der inhaltliche Umfang der zwei Baende 1:1 geraten ist. Doch das eigentliche Produkt sind diese beiden Print Bände. Dazu will ich Wolfgang Scheppe und seinem Team gratulieren. Es sind weder Bildbände im gewohnten Herstellungs- und Gestaltungssinn noch im Sinne einer linearen Text- und Bildfolge. Sie vereinen Theorie, Textsequenzen, Bild, Grafik und Statistik, anschauliche Realität in eindrucksvoller Weise. Die Form erinnert an den Hypertext, ist es aber dennoch nicht. Hier zeigt sich sogar, dass diese Gestaltungs- und flanierende Erzählform dem Hypertext noch ueberlegen ist. Einen Nachteil hat der Hypertext, man kann ihn nicht derartig in Fu?lle ueberfliegen und sichten, wie diese hier vorgelegte Form. Die Merkfähigkeit beim Blättern ist entschieden besser als im Klick und Scroll Verfahren. Ein Nachteil: die Schriftgröße ist etwas klein geraten. Da habe ich ohne Brille keine Chance.