Die Stadt als Hypertext

Vortext: Fotografische Feldforschung in New York betreibt Scheppe Böhm Associates mit dem Projekt Endcommercial ­ Reading the City. PAGE sprach mit Florian Böhm über das Konzept und stellt Auszüge vor

Chaos ist das Gegenteil von Ordnung ­ dass dies eine Binsenweisheit ist, widerlegt das Projekt Endcommercial ­Reading the City anhand von Bildern. Mehr als 60 000 digitale Fotos haben Florian Böhm, Luca Pizzaroni und Wolfgang Scheppe von Scheppe Böhm Associates (SBA) seit 1997 in New York aufgenommen. Derzeit machen sie Teile ihres Archivs in Buchform und in verschiedenen Ausstellungen der Öffentlichkeit zugänglich. All die zufälligen Details der Stadt, die im realen Raum zu einem chaotischen Gebilde verstrickt sind, haben sie nach Kategorien geordnet. Auf diese Weise offenbaren sie Analogien und Gesetzmäßigkeiten im vermeintlich Chaotischen. “Wir arbeiten dabei bewusst ohne Texte“, erklärt Florian Böhm. “Die Lesbarkeit entsteht allein durch die Anordnung der Bilder.“

Die Struktur für das Archiv kristallisierte sich erst während seines Entstehungsprozesses heraus. Zunächst gab es motivisch definierte Kategorien ­ etwa “Straßenverkäufer“, “Hydranten“ oder “Einkaufstüten“ ­, während der Sichtung des Materials zeigten sich dann bestimmte übergreifende Charakteristika, die zur Bildung weiterer Kategorien führten, beispielsweise “Blue City“. Florian Böhm erzählt: “Wir hatten viele Straßenaufnahmen ohne Fokus auf ein bestimmtes Objekt gemacht. Als wir uns die Bildübersicht auf dem Monitor anschauten, sahen wir, dass auf erstaunlich vielen Fotos kleine blaue Flächen zu sehen waren.“ Diese Farbflecken entpuppten sich als Planen, wie sie bei improvisierten Kleinbaustellen, von Straßenverkäufern oder zum Abdecken von Motorrädern verwendet werden. “Plötzlich entdeckten wir sozusagen in jedem zweiten Bild einen blauen Fleck. Vorher, in der Stadt selbst, hatten wir das gar nicht gesehen. Danach haben wir gezielt weitere Fotos für diese Kategorie geschossen.“

Eine Art neues Sehen soll Endcommercial ermöglichen. “Diese Dokumente sind Abbildungen einer urbanen Wirklichkeit, die als Einzelphänomene scheinbar bestens bekannt sind. Ihrer Gewöhnlichkeit wegen wird ihnen zugleich keine Aufmerksamkeit geschenkt. Ihrer Wahrnehmung steht ihre totale Sichtbarkeit im Wege“, erklären die Urheber. Sie wollen mit dem Projekt also Aspekte des Stadtraums wahrnehmbar machen, die man schon oft gesehen, nie aber wirklich registriert hat.

Ins Blickfeld rücken sie dabei zum Beispiel das Thema Typografie, das verschiedene Kategorien durchzieht. Zu den Motiven zählen hier Stahltafeln zur Abdeckung von Baugruben, Kommunikationssysteme auf Laternenmasten, Markierungen im Asphalt für Wasser-, Gas- und Elektroarbeit, Sandwichmen-Werbetafeln oder Verbotschilder aller Art. Das Trio geht allerdings noch einen Schritt weiter und versucht nicht nur, Zeichen sichtbar, sondern auch Dinge lesbar zu machen. Die Zweckentfremdung von Objekten spielt dabei eine wichtige Rolle, denn die Urheber wollen anhand solcher umgedeuteten Elemente Strukturen der Improvisation aufdecken. “Es gibt zum Beispiel nicht genügend Sitzgelegenheiten, also werden Hydranten uminterpretiert und massenhaft für Zigarettenpausen, Handy-Gespräche oder einfach zum Ausruhen genutzt. So stehen diese Rohre für die Rückeroberung der Stadt durch den Menschen“, meint Florian Böhm. Die Stadt reagiert darauf mit drastischen Maßnahmen ­ draufgeklammerte Nagelreihen sollen die Leute wie Tauben verscheuchen. “Das hat einen bestimmten Rhythmus ­ wir haben die Stadien von Verfall und Genese im Stadtraum verfolgt“, erklärt Florian Böhm.

Reading the City zeigt also banale Oberflächen, bleibt durch die Form der Präsentation jedoch nicht an der Oberfläche der Stadt hängen. Jenseits des Sichtbaren geht es den dreien auch um “die immaterielle Architektur des urbanen Lebens hinter ihrer materiellen Manifestation ­ bestimmt durch Gesetze, Verordnungen, Eigentumsverhältnisse und ökonomische Interessen.“

Als sozialkritisches Statement ließe sich Endcommercial auch verstehen. Dieser Aspekt stand in der Ausstellung in den KunstWerken Berlin, Institute for Contemporary Art, stärker im Vordergrund. Entsprechend schrieb Nicolas Siepen in der “Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, es ginge SBA darum, anhand der Fotografien, die “Lesbarkeit gesellschaftlicher Strukturen zu rekonstruieren.“ Florian Böhm erklärt dazu: “Es führt in die Irre, wenn man Endcommercial nur in diesem politischen Zusammenhang sieht. Dass unsere Arbeit in den KunstWerken so gedeutet wurde, liegt auch daran, dass die anderen Projekte eher aus dem politischen Kontext kamen.“ Nach der Berliner Ausstellung war das Fotomaterial kürzlich in einer anderen Präsentationsform in der New Yorker Galerie Storefront for Art and Architecture zu sehen. Die Kunstszene hat scheinbar großes Interesse an der Arbeit. Florian Böhm stellt jedoch klar: “Wir verstehen uns nicht als Künstler und sehen das Projekt nicht im Kunstkontext.“

Als Kunstprojekt hatte Scheppe Böhm Associates das ganze zumindest ursprünglich nicht geplant. Die Fotos entstanden zu Forschungszwecken neben der kommerziellen Arbeit von SBA ­ das Team versteht sich als kreatives, interdisziplinäres Büro, das Kommunikation und Identitätsstrukturen entwickelt. Als der Architekt Rem Kolhas sie einlud, für das Shopkonzept von Prada in New York Input für die Brainstorm-Phase zu liefern, präsentierte SBA Auszüge aus dem Archiv in Buchform ­ es sollte den konzeptionellen Ansatz der Agentur vermitteln. Die Kooperation mit Kolhas kam zwar nicht zustande, das Buch landete aber nach der Präsentation in Rotterdam über Umwege und private Kontakte beim Guggenheim Museum in New York. “Guggenheim zeigte es dann seinem Verlag, Hatje Cantz Publishers, dort hielt man es für einen Buchvorschlag und das ganze bekam eine gewisse Eigendynamik.“

Das Titelmotiv ist im Vergleich zu den übrigen Bildern die große Ausnahme: es ist inszeniert. Florian Böhm erklärt dazu: “Den Begriff ‘Endcommercial‘ haben wir auf der Straße abgelesen, allerdings in San Fransisco. Dort gab es zwei Schilder mit diesen Worten, die den Lieferverkehr regelten. Der Name passte in mehrerer Hinsicht. Für uns intern war das ja ein unkommerzielles Projekt, außerdem geht es darin um die Nischenwirtschaft oder low end economy auf der Straße. Und im Nachhinein erhielt der Begriff durch die globale Krise in der Wirtschaft zusätzliche Aktualität. Vom Format her war das Originalfoto nicht verwendbar, also haben wir das ganze gestellt ­ wir wollten einen Titel, der im Bild integriert ist und nicht als Text drauf gedruckt ist.“

Das Strukturdiagramm, das im Buch mehrfach auftaucht, wirkt auf den ersten Blick ziemlich komplex und kryptisch. Es gibt 3 übergeordnete Begriffe, die sich jeweils dreifach teilen und dann nochmals verzweigen, so dass insgesamt 32 Untergruppen entstehen. Als übergestülpte Theorie, die den Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, verstehen die Urheber das ganze jedoch nicht. “Das ist kein wissenschaftliches Diagramm, sondern ein Hilfsmittel, um das Material zu gliedern“, sagt Florian Böhm. Es dient als eine Art Inhaltsangabe, wobei einer der Begriffe entsprechend dem jeweiligen Kapitel gehighlightet ist. Auf diese Weise erkennt der Leser immer, wo er sich in der Gesamtstruktur des Buches befindet. Auf den zweiten Blick deutet das Diagramm noch etwas an: dünne Strichellinien verbinden einzelne Unterkategorien zu neuen Gruppen. Letztlich wäre das Bildarchiv auch als Webprojekt denkbar ­ so wären die Bilder nicht wie im Buch an einen einzigen Kontext gebunden, sondern flexibel und interaktiv in immer neuen Gruppierungen bündelbar ­ die Stadt als Hypertext.

Auch beim Blättern im Buch gelingt es jedoch, zumindest im Kopf eigene Links zwischen den Bildern herzustellen und so ist “Reading the City“ tatsächlich in vieler Form lesbar. Ihre Urheber verstehen es als Bildlexikon für urbane Phänomene, als visuelle Grammatik oder als Enzyklopädie der globalen Stadt. Dass bei aller Zerstückelung, allem theoretischen Überbau, aller Analyse New York dennoch als lebendiger Organismus erfahrbar wird, beschreibt Filmregisseur Jim Jarmush, selbst New Yorker, so: “Endcommercial lokalisiert die Seele New Yorks in seinen Details. Hier wird kein Unterschied gemacht zwischen Müll und Luxus, Werbung und Handgeschriebenem, und so feiert dieses schöne Buch die Ordnung, die man im Chaos findet und das Chaos in der Ordnung.“