Auch das ist New York - man muss es nur lesen können.

Es gibt ein New York diesseits des 11. September, ein New York, das nicht das Empire State Building und nicht die Freiheitsstatue ist. Das ganz alltäglich, aber dennoch geheimnisvoll erscheint; in dem Hydranten, Plastikplanen und Trittleitern Hieroglyphen gleichen, die es zu entziffern gilt.

Kein Mensch macht sich Gedanken über ihn, wie er da auf einer fünfstufigen Trittleiter vor seinem Laden sitzt. Die Passanten gehen vorbei oder stöbern ein wenig in den Sonderangeboten. Kissenbezüge sind gerade günstig. Blättert man aber weiter und sieht auf den Fotos Ladenbesitzer um Ladenbesitzer auf Trittleitern sitzen, gehen einem die Augen auf. Was eben noch zufällig schien, entpuppt sich als System der Überwachung.

Über 60.000 Fotos haben Florian Böhm, Luca Pizzaroni und Wolfgang Scheppe seit 1997 in New York gemacht und täglich werden es mehr. Es sind Bilder des Alltags, für die die Werbung keinen Platz hat. Bilder, die sonst keiner macht. Rund Tausend von ihnen liegen nun in einem Buch versammelt vor, in einem Buch, das ganz ohne Kommentar auskommt. Lediglich auf dem Buchrücken finden sich vier Sätze, von denen die ersten beiden so lauten:

Taking the city of New York as its point of departure, the photographic project EndCommercial addresses urban space, dissecting and reassembling it into very different than a sum of the city’s part’s. Image by image, the inner grammar of an urban subtext is pieced together.

Reading the City heißt der Untertitel des Buches und greift damit den viel zitierten Appell Franz Hessels auf: “Eine Art der Lektüre ist die Straße. Lies sie.” Dem Säulenheiligen aller Flaneure waren Menschengesichter, Auslagen, Schaufenster, Café-Terrassen, Bahnen, Autos, Bäume lauter gleichberechtigte Buchstaben, die zusammen Worte, Sätze und Seiten eines immer neuen Buches ergeben.

Ging aber Hessel noch von homogenen Texten aus und plädierte für eine hermeneutische Stadtlektüre, so geht EndCommercial strukturalistisch zur Sache. Die unendliche Weite der Stadt wird durchforstet auf der Suche nach Regularitäten, nach Mustern und Strukturen: Hier die gesammelten Bilder angeketteter Fahrrad-Wracks, denen man jede Schraube gestohlen hat; dort jene von Plastiktüten, die - Präservativen gleich - über defekte Parkuhren gestülpt werden.

Aber EndCommercial behauptet keinen theoretischen Anspruch, behauptet nicht einmal Kunst zu sein (tatsächlich sind die drei SBA/Scheppe Böhm Associates, eine Kreativagentur mit Sitz in München und New York), sondern nennt das ganze nur: a case study und gibt sich als positivistische Bestandsaufnahme. Ob aus der Masse der Bilder eine Taxonomie der Stadt entsteht, bleibt dem Urteil des Betrachters überlassen. Das aber kann man sagen: Es ist ein Buch, das die Augen öffnet, das - wie es Stephanie Rosenthal anlässlich der Ausstellungseröffnung von EndCommercial im Münchner Haus der Kunst formulierte -, Einsicht gewährt in die Differenz von oft Gesehenem und niemals Registriertem.

Manchmal scheint es um Ästhetik zu gehen. Etwa die Bilder blauer Plastikplanen, die einen Müllcontainer, ein Baustellengerüst oder ein offenes Dach verhüllen (Cover for the Wound). Zur Erfahrungsschulung werden Alltäglichkeiten einem musealen Blick ausgesetzt. Die Intensität der Beobachtung, die man im Museum selbst banalen Gegenständen des Alltags zugesteht: Warum sie nicht auf den urbanen Raum, die eigene Normalität richten? Neugierig muss man nicht nur auf Reisen sein.

Manchmal ist auch Ideologiekritik am Werk: Wer vor Fendi in New York steht, dem wird der reduzierte Klassizismus der Marmorfassade edel und erhaben vorkommen; in strengen Versalien prangt der Firmenname über dem Portal. Sieht man dann, dass Gucci, Prada, Bulgari, Chanel und all die anderen es ebenso tun, wird deutlich, wie Epitaphe imitiert, wie die Feierlichkeit, das Pathos monumentaler Grabanlagen benutzt werden, um Luxusläden in weihevolle Kultstätten zu verwandeln Tatsächlich gleicht Tiffanys Front einem kolossalen Mausoleum.

Oft geht es nur (aber was heißt hier nur?), um eine chaotische Kraft, die sich anarchisch der städtischen Ordnung widersetzt und alles überwuchert. Gerade die alternative media tun das in ornamentaler Subversion: Ob dicke Lagen von Abreißzetteln Laternen und Ampeln (Chinesen scheinen rote zu bevorzugen) ummanteln, Massen von Aufklebern Türen pflastern oder herabgestürzte Leuchtbuchstaben zu Misspellings führen: Was im Einzelfall immer zufällig ist, in der Masse scheint es das Wirken geheimnisvoll-gestalterischer Kräfte zu bezeugen.

Es liegt beim Betrachter, was er aus den Bildern zieht. Die Fotos von Hydranten lassen viele Assoziationen zu. Vielleicht sind sie Auswüchse einer von Morlocks beherrschten Unterwelt oder einfach nur surrealistische Skulpturen in einer radikal orthogonalen Stadt? Zumindest sind sie beliebte Straßenmöbel. Alte Menschen lassen sich auf ihnen nieder, ruhen sich aus, andere telefonieren oder warten hier. Doch als wären Menschen Tauben sind vielen Hydranten Gitterkonstruktionen aufgepfropft, die Folterinstrumentarien gleichen und jedes Verweilen unmöglich machen. Wer tut so etwas?