Die Stadt, ein Ozean der Zeichen und Dinge: “Abfall, der sich häuft, Prospekte, Hauswurfsendungen - Laufmaschen breiten sich aus und verschwinden unterm Rock, Rentner in langen Mänteln stehen vor den Kaufhäusern und verteilen Reklame für Hantelgymnastik.. .“ Angeekelt, wütend und zugleich elektrisiert ließ sich Rolf Dieter Brinkmann Anfang der siebziger Jahre durch den semiotischen Dschungel der Großstädte treiben. Auf diesen ziellosen Raumpatrouillen vergleicht Brinkmann sich selbst immer wieder mit dem mimetischen Medium der Kamera: “Treten, Schritte, Sehen: Klack, ein Foto! Gegenwart, eingefroren!“ Kühl wird alles registriert, was ihm die Umwälzmaschine Stadt vor die Füße spült, bevor es im Gully verschwindet, überklebt oder zugebaut wird. So archiviert sein Auge die Gegenwart immer auch als etwas Vergangenes. Oder wie es die New Yorkerin Susan Sontag einmal formuliert hat: “Fotografieren heißt, die Sterblichkeit archivieren.“

Florian Böhm, Wolfgang Scheppe und Luca Pizzaroni sind im Verlauf der vergangenen sechs Jahre zu den Archivaren New Yorks geworden: Seit 1997 fotografieren die drei Künstler die Stadt; unermüdlich sammeln sie Material, Abfall, der sich häuft, Prospekte, Hauswurfsendungen… Täglich stellen sie neue Schnappschüsse ins Internet (www.digitalslum.com) und haben nun aus ihren mittlerweile 60000 Digital-Fotografien unter dem Titel “Endcommercial / Reading the City“ ein Buch über New York kompiliert, das durch sein Kompositionsprinzip mehr über urbanes Leben sagt als viele soziologische Texte zusammen.

Meist werden durch den Dschungel der Stadt Theorieschneisen geschlagen, anmaßend breit wie Haussmansche Boulevards, die dann das subtile Zeichengeflimmer, alles verwinkelt Kleinteilige einer Stadt, zubetonieren. Scheppe, Böhm und Pizzaroni enthalten sich allen Kommentars, sie schlagen sich auf die Seite ihres diffusen Materials, das sie neu katalogisieren und ausstellen.

“Die Dinge, oh, die alltäglichen Dinge!“, jauchzt Brinkmann in einem seiner wenigen ekstatischen Momente inmitten des städtischen Zeichengestöbers. All die Dinge, über die man beim Gang durch die Straßen meist hinwegläuft, die eine Art optisches Hintergrundrauschen des urbanen Raums bilden, werden in diesem Fotoband zu konstituierenden Teilen der Stadt: defekte Parkuhren, abgeblätterte Ladeninschriften und Hunderte kaputter Computermonitore auf Bürgersteigen; angekettete Fahrradstümpfe, gefleddert von irgendwelchen Dieben, die die Reifen und den Sattel abmontiert haben, um das Zeug in einem anderen Viertel erneut in den enormen Warenkreislauf der Stadt einzuspeisen; vielleicht bei einem der vielen Straßenverkäufer, die die drei ein paar Seiten weiter versammelt haben. Alles ist hier im Fluss, wird umcodiert und umfunktionalisiert: Hydranten werden zu Sitzgelegenheiten,

Laternenpfähle sind Anschlagtafeln mit schlampig angeklebten chinesischen Werbezetteln, Einkaufswagen werden von den Obdachlosen der Stadt als Wohn-Wagen zweckentfremdet…

Beiläufig entsteht so eine neue Semiotik des Straßenlebens. Dem Buch vorangestellt ist eine Art Stammbaum, der die versteckten Zusammenhänge der verschiedenen Themen anskizziert und mit ihren einander kreuzenden Linien an einen weit verzweigten U-Bahnplan erinnert: “Kommerz: Straßenverkäufer - Einkaufswagen. Alternative Medien: Autotüren, Laternenpfähle, Aufkleber.“

Der Filmemacher Jonas Mekas, der in den fünfziger Jahren tagelang mit seiner Kamera durch New York lief und auf diese Art Tagebuch führte, schrieb in seinen

“Anmerkungen zu einigen neuen Filmen und zur Glückseligkeit“: “Die Rechte und die Linke wollen mit ihrem ,Engagement‘ die Welt verändern. Seit die Welt besteht, haben sie sie verändert. Einen erstklassigen Mist haben sie daraus gemacht. Das Engagement des nutzlosen Künstlers besteht darin, sich der Welt zu öffnen.“ In diesem Sinne ist “Endcommercia®l / Reading the City“ ein engagiertes Buch; New York, die offene Stadt.

Mekas übrigens, der inzwischen fast achtzig Jahre alt ist, schwärmte über “Endcommercial“: “Dieses Buch ist für mich eine Liebeserklärung an New York und ein visueller Führer durch die Stadt - ihr Straßenleben, ihre Ikonographie, die geheimen Details und Mysterien dieser großen Stadt, alle gesammelt mit Liebe, die die Basis aller wirklich wichtigen Fotografie ist. “

Mit freundlicher Genehmigung der Süddeutsche Zeitung, www.sueddeutsche.de und der DIZ München GmbH, www.diz-muenchen.de