Dies ist ein Welterklärungsbuch mit mehr Gegenwart und Gegenwärtigkeit als ein großer Roman, umfassend, gebildet, gelehrt, belehrend. Ein aktuelles Werk über ein historisches Relikt: Venedig. Die Vermessung geschrieben und kunstvoll inszeniert hat der deutsche Philosoph und Kurator Wolfgang Scheppe. Er lehrt an der Universität für Architektur in Venedig.

Drei Jahre dauerten die Recherchen von Scheppe und seiner Assistenten und Studenten darüber, wie viel die Werbeplakate kosten, die dort die historischen Kulissen zu überbieten versuchen (bis zu 72.000 Euro); woher die Venice T-Shirts stammen, die am Schiffsanleger verkauft werden (etwa aus Bangladesh); wie die illegalen Einwanderer leben, die die gefälschten Louis-Vuitton-Taschen verticken (müssen).

Das Buch erzählt Geschichten wie die von Mbaye X., dem senegalesischen Hotelportier und Hausbesitzer, zählt die Passagiere der 14 Kreuzfahrtschiffe, die täglich einlaufen (je 1820), erfasst das Verhältnis der Touristen und der Einwohner pro Quadratkilometer (56 zu 75, in Paris sind es neun zu 205). Es sind Tausende überraschende Fotografien, Statistiken, Schaubilder, Diagramme, unzählige Essays und Interviews, die die Macht- und Menschenströme aufzeichnen, die wie die ungleichen Touristen und Emigranten am Canal Grande zusammenlaufen.

„Migropolis“ heißt das zweibändige Werk in englischer Sprache, der Unter- titel „Venice – Atlas of a Global Situation“ (Hatje/Cantz, Ostfildern; 1344 Sei- ten, 68 Euro) beschreibt sehr gut, was dieses Buch des Jahres noch ist, außer ein Kunststück: ein Atlas der Globalisierung, die Psychoanalyse der einzig- artigsten Stadt der Welt – und der typischsten, was die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen einer globalisierten Metropole angeht, in der die Wirtschafts- die Lebensform bestimmt. Wichtig! Großartig!