Als Fallstudie (case study) bezeichnen Florian Böhm, Luca Pizzaroni und Wolfgang Scheppe (kurz: SBA), die Autoren dieser Sammlung von Fotografien ihr Projekt. Was da unter dem Label EndCommercial® in einer Reihe von Ausstellungen, als voluminöser Katalog und als Website zu entdecken ist, sprengt allerdings die bekannten Maßstäbe dokumentarischer Fotografie. Vor allem durch die radikale Abkehr vom auratisierenden Einzelbild wird hier eine Ebene der Verarbeitung visueller Information erreicht, die stark an soziologische oder anthropologische Studien erinnert, vom Einsatz ästhetischer Strategien aber letztlich die entscheidenden Impulse gewinnt.

Vielleicht folgen die Aufnahmen ja nur den Spuren, die bestimmte Dinge, wie Müllbehälter, Plastikplanen oder Schriftzeichen von sich aus legen, wenn sie in den Straßen New Yorks wie von selbst auf die Allgegenwart von symbolischen Unfällen, mißbräuchlichen Aneignungen oder anderen Sprüngen im System urbaner Ordnung stoßen. Beispielsweise eignet sich eine häufig verbreitete Form von ãsiamesischen“ Rohrstutzen bestens als öffentliches Sitzmöbel und wird als solches auch genutzt ­ jedenfalls solange, bis es durch martialische Stachelaufbauten dagegen geschützt wird. Ist diese inoffizielle In-Gebrauch-Nahme einmal in Bildern festhalten, verstärkt das wie von selbst die Aufmerksamkeit für verwandte Taktiken müder Stadtbewohner, sich Sitz-Gelegenheiten zu Nutze zu machen und zu sichern. So findet sich in einer öffentlichen Telefonzelle ein von der Telefongesellschaft sicher nicht vorgesehener Barhocker, und wurde sogar zum Schutz gegen Entwendung dort angekettet.

Flaneure, die auch außerhalb von Shopping-Malls und Geschäftsvierteln die Augen offen halten, werden viele der hier zusammengetragenen Details schon früher einmal bemerkt haben. Aber abgesehen davon, dass ein Großteil der Wahrnehmungen als Indizien drohenden Verfalls gerne verdrängt werden, dürfte es auch an der oft schleichenden Entwicklung ihrer Manifestationen liegen, dass sie zumeist unterhalb der Aufmerksamkeitsschwelle verbleiben. Das fotografische Dokument ermöglicht daher ein Wiedererkennen flüchtiger Eindrücke, das zugleich ein Neuentdecken ist.

Zum konsequenten Sammeln von derartig ambivalenten Situationen (die 1.000 im Buch abgedruckten Bilder stellen nur eine Auswahl dar) kommt aber noch die Organisation des Bildmaterials entscheidend hinzu. Fast scheint es so, als ob es mit dem Ordnungssystem von EndCommercial® gelungen ist, nicht nur bestimmte ãSymptome“ urbaner Schauplätze zu fokussieren, sondern darüberhinaus auch eine heimliche Logik des Alltags ein Stück weit freizulegen. Das könnte umso begründeter sein, als die eingesetzte begriffliche Schematik immer wieder durch das visuelle Material mit der Ironie derer, die ihre Umwelt weniger repräsentativ als bewohnbar machen wollen, durchbrochen wird. Genau damit nähert sich die Vorgehensweise der Fotografen den ãObjekten“ ihrer Studien an. Im Anschluss an Michel de Certeau könnte man darum bemerken, dass sie die dort draußen praktizierte ãKunst des Handelns“ nicht, wie selbst die meisten Kritiker der herrschenden Systeme, als rein passive Konsumhaltung etc. abwerten, sondern ihre eigentliche Form des Widerstands nachvollziehen.

Damit könnte auch zusammenhängen, dass sich die Autoren von SBA mit Kommentaren extrem zurückhalten. Wer nicht die Leidenschaft entdeckt, in dieser Welt der Zeichen und Vollzüge nach den Mustern und Taktiken zu suchen, in denen die Wünsche vor drohender Zurückweisung oder Verfolgung Unterschlupf suchen und gelegentlich auch finden, dem wird das Drängen eines produktiven und phantasievollen Begehrens, das hier am Werke ist, ohnehin verborgen bleiben. Dieses Begehren manifestiert sich nicht direkt, sondern muss ähnlich wie das Freudsche Unbewusste dechiffriert werden. Es sucht nach Möglichkeiten, sich an unerwarteten Stellen zu realisieren, und findet diese vor allem in Gelegenheiten, plötzlichen Wendungen, Lücken im System ­ oder auch im Aufgreifen von Fundstücken, wie dem ironischen Titel für eine ihm gewidmete Darstellung: ãEnd Commercial“, das ist eigentlich nur die Botschaft eines Schildes, das an einer Straße die Stelle markiert, wo sich ihr Name ändert.

In diesem Sinne ist der Fall mit der Studie nicht abgeschlossen. Das Projekt hat Prozesscharakter, und ist nach vielen Seiten hin offen und erweiterungsfähig. Auf einer eigenen Website (endcommercial.com) werden seine Ergebnisse nicht nur verfügbar gehalten, sondern auch ständig aktualisiert. EndCommercial® profitiert aber nicht nur von den Errungenschaften des Informationszeitalters, sondern zeigt auch, dass sie sich für die Erkenntnis derjenigen Lebenszusammenhänge nutzen lassen, die sich in seinem eigenen Schatten herausbilden.