Wer etwas vermarkten will, braucht vor allem eines: Aufmerksamkeit. Man erreicht sie durch Differenz und Distinktion. Dieser Einsicht, der sich auch die “Tirol Werbung” nicht verschlossen hat, verdanken wir, des verbreiteten Postkarten-Idyllen-Kitschs überdrüssig, eines der bemerkenswertesten Projekte der letzten Jahre: “Sight-Seeing”. Der erste Band, der Sommerlandschaft Tirols gewidmet, erhielt den Deutschen Fotobuchpreis 2012. Der zweite, “winterliche”, ist bald darauf erschienen. Sieben Fotografen präsentieren Tirol in allen Facetten - und man profitiert davon, dass man mehr und anderes sieht als das, was man immer schon erwartet. Ästhetisches Vergnügen und Erkenntnislust werden durch die gewagte Montage der Fotos gefördert, die auf engstem Raum verschiedenste Blicke kombiniert. Und wer nicht sofort versteht, worum es in “Sight-Seeing” geht, dem hilft der tiefschürfende und brillant formulierte Essay des Herausgebers Wolfgang Scheppe weiter. Bei der Lektüre wird einem bewusst, dass “Sight-Seeing” ein paradoxer Begriff ist: Was man sieht, wenn man touristisch unterwegs ist, ist die eigene Sicht. Das große Versprechen der Tourismus-Industrie lautet, dass man genau das zu sehen bekommt, “erlebt”, was man immer schon erwartet und kennt. Der schöne, gern am Computer nachbearbeitete Prospekt kodiert den Blick und dieser unsere “Erfahrungen”. Die reale Landschaft ist nur noch das Double unserer Wünsche, die von der Tourismus-Branche professionell und souverän bewirtschaftet werden. Scheppes Text, könnte man meinen, ist ein Pamphlet gegen die Praxis seiner Auftraggeber. Und die Fotos, die das Abseitige der Sehenswürdigkeit vorziehen, attackieren unsere Sehnsüchte, die nach präziser Erfüllung verlangen. Und doch können alle Beteiligten hochzufrieden sein; auch die “Tirol Werbung” - und nicht niur der Auszeichnung für den ersten Band wegen. Die Reisenden erhalten das neue Versprechen einer reflexiven Authentizität, die vertraute touristische Bildprogramme der vergangenen zwei Jahrhunderte beiseiteräumt und dadurch Erfahrungen ermöglicht, die roh, das heißt noch nicht “verbildet” sind. Und all diejenigen, die gar nicht verreisen, sondern nur schauen und lesen wollen, können sich von diesem Foto-Text-Buch überraschen lassen, das verblüffende Bilder und luzide Prosa so verbindet, dass Sensibilität und Intellekt gleichermaßen gereizt werden. Selbst für archaische Poesie-Bedürfnisse ist gesorgt - mit der wilden Prosa von Raoul Schrott, die den Band beschließt.