Die Promenade ist breit, sogar ziemlich breit. Doch da in Venedig überall, wo Platz ist, nicht nur einzelne Menschen, sondern auch Touristenmassen sind, stört der Zaun doch: Auf dem Weg zu den Giardini versperrt plötzlich ein Eisengitter den Durchgang und teilt die Promenade in einen privaten und einen öffentlichen Bereich auf. Zum Wasser hin, dort, wo die mächtigen Kreuzfahrtschiffe ankern, ist ein Streifen den Passagieren vorbehalten. Die wollen zwar so nah an die Stadt heran wie möglich – was diese jedes Mal bis auf ihre Fundamente hin erschüttert –, doch der Zaun stört sie anscheinend trotzdem nicht: Bleibt damit doch alles, was sich nicht als Fotomotiv eignet, auf Sicherheitsabstand.

Endlich passt Venedig. Auf den vergangenen Architekturbiennalen hat man sich immer mal wieder die Frage gestellt, warum die wichtigste Baukunstausstellung der Welt ausgerechnet in der Stadt stattfinden muss, wo moderne Architektur meist penibel versteckt wird, damit nur ja nichts das begehbare Postkartenmotiv zerstört. Doch die 12. Architekturbiennale, die an diesem Sonntag eröffnet, stellt die Frage, wie Menschen sich in Architektur treffen können. Es geht also um den öffentlichen Raum, der in Venedig nur noch selten und meist allein in Zusammenhang mit horrenden Restaurantrechnungen zu finden ist.

Das Thema drängt sich nicht nur an der Lagune auf: Schon jetzt leben mehr Menschen in Metropolen als auf dem Land. Tendenz steigend. Wenn die Welt aber Stadt wird, dann bleibt den Bewohnern gar nichts anderes übrig, als sich im Urbanen zu treffen. Umso wichtiger ist es, dort Orte zu schaffen, an denen sich Menschen gerne begegnen, anstatt durch sichtbare oder unsichtbare Sicherheitszäune aneinander vorbei geschleust zu werden.

Die diesjährige Kuratorin der Biennale – mit der 1956 geborenen japanischen Architektin Kazuyo Sejima ist es zum ersten Mal eine Frau – hat mit dem Motto der Ausstellung, die wie immer im Arsenale, im Palazzo delle Esposizioni und in den Länderpavillons in den Giardini sowie verstreut im Zentrum stattfindet, auch das Grundmotiv ihrer eigenen Arbeit thematisiert: In ihren Gebäuden soll man sich treffen, die Grenzen zwischen Außen und Innen löst sie auf, um möglichst viele Orte der Begegnung zu schaffen. Wie das funktionieren kann, hat sie jüngst mit ihrem Büropartner bei Sanaa, Ryue Nishizawa, in einer Universitätsbibliothek am Genfersee gezeigt. Die Erwartungen waren bei der diesjährigen Konstellation – wichtiges Thema, passender Kurator – also hoch. Sie werden zu Beginn im Arsenale erst einmal gehörig enttäuscht. Den Besucher empfängt ein gigantischer Findling, durch den ein geschickter Steinbohrer zwei hölzerne Schächte getrieben hat. Auch wenn man das steinzeitliche Objekt betreten dürfte, Platz wäre nur für eine Person. Begegnungen kann es da also schon einmal nicht geben, und dass wir uns alle in Steinhöhlen zurückziehen sollen, um dort uns selbst zu treffen, macht als Erklärungsversuch auch nicht wirklich glücklich. Ebenso allein lässt einen das Kino des französischen Duos Berger & Berger: Nur weil die Spielstätte, die in ihrer gezackten Form an Frau Mahlzahn, den Drachen aus Michael Endes „Jim Knopf“, erinnert, auf- und abgebaut werden kann, schafft das noch keine Begegnungen: Wie in jedem Kino gibt es einen Eingang und einen Ausgang und dazwischen einen Raum mit Tribüne, wo man möglichst still sein sollte, um die anderen nicht zu stören.

Da kann sich Sejima, die dieses Jahr mit Nishizawa den renommierten Pritzker-Preis gewonnen hat, noch so hinter der Aussage verstecken, dass jeder einzelne der knapp 50 Teilnehmer in der Hauptausstellung sein eigener Kurator sein soll – mehr Eingriffe ihrerseits hätten der Biennale gut getan. Sejimas Handschrift verhält sich stattdessen so unsichtbar wie die papierdünnen Glaswände ihrer Bauten.

Überhaupt ihre Bauten: Ein wenig beschleicht einen das Gefühl, dass die ansonsten sehr zurückhaltende Architektin vor allem die eigenen Arbeiten schön präsentieren wollte. Die Qualität ihrer Gebäude, etwa das Teshima Kunstmuseum auf einer unbewohnten japanischen Insel, ist fraglos hoch und ihr Ansatz passt auch zum Thema, doch dass sich ein Kurator selbst so prominente Ausstellungsflächen zuteilt und dann auch noch einen unglaublich grässlichen 3D-Werbefilm von Wim Wenders über die eigene Bibliothek in Lausanne ablaufen lässt, ist dann doch arg viel der Selbstinszenierung.

Wer das auch tut, jedoch damit sichtlich besser durchkommt, ist Rem Koolhaas: Der 65-jährige niederländische Architekt darf das nicht nur, weil er diesen Samstag mit dem Goldenen Löwen der Architekturbiennale für sein Lebenswerk ausgezeichnet wird, er verknüpft es auch mit der klugen Ausstellung „Preservation“: Darin skizziert er die Entwicklung des Denkmalschutzes von seiner Entstehungszeit Ende des 19. Jahrhunderts bis heute und zeigt auch, wie das Geschützte dadurch in Gefahr gebracht werden kann. Nach der Vergabe eines Weltkulturerbetitels steigt die Zahl der Touristen steil an. Wer sich schon mal in der vietnamesischen Ha Long Bay zwischen Ölpfützen und knatternden Motorbooten befand, weiß das. Umso zwiespältiger ist, dass die Zahl der vergebenen Titel jedes Jahr größer wird und jetzt auch die Gegenwart beschützt werden soll. Rem Koolhaas’ Haus in Bordeaux wurde kurz nach Fertigstellung von der Unesco unter Denkmalschutz gestellt, weswegen der Architekt schon den Schutz für noch gar nicht Gebautes prophezeit. Sein neues Projekt, der Umbau des mittelalterlichen Fondaco dei Tedeschi in Venedig zum grellbunten Luxuskonsumtempel direkt am Canal Grande, dürfte dafür jedoch wohl nicht in Betracht kommen.

Gleichwohl nehmen einige Teilnehmer – in der Hauptausstellung wie auch in den Länderpavillons – das Thema „People meet in Architecture“ ernst und schaffen überzeugende Begegnungen. Da ist etwa der deutsche Künstler Thomas Demand, der mit seiner Installation sich endlich an die Dreidimensionalität wagt, ohne mit der Erinnerungsarbeit zu brechen: Aus Stellwänden baut er eine Hausfassade auf, aus deren Fenstern gemütlich rote Lampenballons leuchten. Die Konstruktion erinnert an etwas, was es so nicht mehr gibt: Das „Nagelhaus“, ein kleines Imbisslokal in der chinesischen Stadt Chongqing, wurde abgerissen, obwohl der Besitzer drei Jahre lang erbittert gegen Staat und Bulldozer gekämpft hat. Jetzt soll es wieder aufgebaut werden, mitten in Zürich. Demand gewann mit dem englischen Architekturbüro Caruso St. John den Wettbewerb für die Gestaltung des Escher-Wyss-Platzes direkt unter einer Autobrücke. Ein gottverlassener Ort, der mit dem wiederaufgebauten 24-Stunden-Lokal belebt werden könnte. Etwas Ähnliches stellt der thailändische Beitrag vor: Das Land, das dieses Jahr zum ersten Mal teilnimmt, zeigt, wie sich in Megastädten, etwa Bangkok, mit simplen Eingriffen tote Plätze zu öffentlichen Räumen umgestalten lassen. Ob mit kleinen Holzpavillons unter der Autobahnbrücke oder einem Sonnensegel, das zwischen zwei Straßenseiten gespannt ist: Was vorher menschenleer war, wird jetzt von Spaziergängern und Marktständen bevölkert.

Auch der Fabrikbau der 1992 verstorbene Lina Bo Bardi, der großartigen Dame der lateinamerikanischen Architektur und des Designs, zeigt, wie eine industrielle Arbeitsstätte zum Familientreffpunkt werden kann – mit einem Theater, Ausstellungsflächen und einem breiten Holzsteg, der den Raum zwischen den monumentalen Betonriegeln in São Paulo plötzlich zum Naherholungsgebiet macht. Israel dagegen erinnert daran, dass die Idee des Kibbuz sich architektonisch immer in Gemeinschaftsräumen manifestiert hat. Der gesamte Pavillon ist erfüllt von Besteckgeklimper und Gläserklirren. Gemeinschaft trifft sich eben besonders gerne zum Vergnügen.

Das kann auch ein Besuch auf dem Biennalegelände bestätigen. Man trifft sich immer dort, wo es lustig ist. Am einfachsten funktioniert das natürlich mit Gratisgetränken, wie das etwa am Tag der Eröffnung der ansonsten eher traurige russische Pavillon vorführt. Kaum stand auf dem Vorplatz der Tisch mit dem gekühlten Prosecco, versammelten sich die Menschen dort. Das Gleiche funktioniert auch, wenn man gemeinsame Aktivitäten anbietet: Etwa im englischen Pavillon, der auf einer Holztribüne zu Naturstudien mit dem Bleistift einlädt, um auf den bedrückend schönen Vergleich des deutschen Philosophen Wolfgang Scheppe zwischen John Ruskins Zeichnungen von Venedig und den Fotografien eines venezianischen Arbeiters einzustimmen ( SZ vom 25. August ).

Oder Serbien: Das Architekturbüro Skart aus Belgrad hat den Pavillon in einen Kinderspielplatz verwandelt mit Holzwippen und kleinen Gärten, die man dank fahrbaren Untersatzes hinter sich her ziehen kann. Das ist eine Alternative zu den allerorts sprießenden Gärten und landschaftlich genutzten Flächen in den Großstädten.

Was dagegen eindeutig Begegnungen verhindert, sind alle Anwandlungen von Größenwahn: Österreich zeigt so ziemlich alle wichtigen ausländischen Architekten, die im Alpenland gebaut haben, etwa Behnisch, Hadid, Nouvel, dann noch die eigenen, die im Ausland bauen, natürlich allen voran Coop Himmelb(l)au, dann noch die österreichischen Architekten, die im Ausland lehren und schließlich die internationalen Architekten, die in Österreich unterrichten. Diese Materialschlacht tobt nur noch in Italien, das alle Fragen stellt, die einem zur Architektur so einfallen: Wie verändert sich die zeitgenössische Stadt? Kann man etwas Sinnvolles unter 1000 Euro pro Quadratmeter bauen? Was sind die neuesten Formen öffentlicher Plätze? Die letzte Frage hätte auch gereicht.

Gerade auf dieser Architekturbiennale wird damit wieder einmal deutlich, woran Architekturausstellungen grundsätzlich kranken. Entweder gibt es winzige Modelle, über die man sich gottgleich beugt, oder es wird versucht, Raumerfahrungen zu erzeugen, was im Zweifelsfall Künstlern besser gelingt als Architekten. Spannender ist deswegen eine Frage, die in Venedig immer wieder auftaucht: Was schafft überhaupt Räume? Die kanadische Künstlerin Janet Cardiff führt in einer eindringlichen Installation vor, wie das durch Klang funktionieren kann, und der deutsche Kurator Hans Ulrich Obrist macht Raum durch Gespräche sichtbar: In einem Interviewmarathon, den man auf Bildschirmen im Arsenale verfolgen kann, hat er mit allen Teilnehmern der Hauptausstellung gesprochen.

Enttäuschend dagegen ist der deutsche Pavillon. 200 Bilderrahmen und ein paar Eimer rote Farbe reichen den Kuratoren aus dem Team Walverwandtschaften, um sich ihrer Aufgabe zu entziehen. Zum Thema Sehnsucht präsentieren sie unverschämt schnell hingeworfene Buntstiftskizzen von Sauerbruch / Hutton und etliches mehr von unzähligen Architekten, die sich offenbar freuten, derart mühelos an einer Biennale teilnehmen zu dürfen. Vielleicht hätte man von dem Thema in Venedig einfach Abstand nehmen müssen.

Und die Stadt? Sie zeigt, wie man nicht nur Begegnungen, sondern auch Zeit schafft. Eine kleine Bar, gleich um die Ecke vom Arsenale, hat auf einem schlichten Papier ihre Öffnungszeiten angeschlagen: El Refolo hat täglich von 12 bis 24:30 geöffnet. Immerhin eine halbe Stunde pro Tag geschenkt.