In den „Venezianischen Notizbüchern“ des britischen Kunsthistorikers John Ruskin (1819 bis 1900) gibt es nur ei- ne Zeichnung, die einem Bauwerk der Renaissance gewidmet ist: Diese Zeichnung, eher nachlässig gefertigt, zeigt die von Andrea Palladio gestaltete Fassade von San Giorgio Maggiore, einem Bauwerk, dem – neben der Seufzerbrücke, neben dem Markusplatz – der besondere Enthusiasmus der Touristen gilt. Es sei unmöglich, schrieb John Ruskin in seinem Kommentar zu dieser Kirche, sich „einen plumperen, barbarischeren, kindischeren Entwurf“ vorzustellen, ein Bauwerk, „das in seinem Plagiarismus beflissener, in seiner Ausführung öder, in jeder vernünftigen Hinsicht verächtlicher“ wäre als diese weiße Imponierfassade. Die romanischen und gotischen Architekten da- gegen hätten tatsächliche Häuser gebaut, Stockwerk für Stockwerk, und ihr Dekor hätte ihnen dazu gedient, den Bau zu spiritualisieren. Dieses Ding von Palladio aber verdiene nicht einen Augenblick Beachtung.

Wenn am kommenden Wochenende die Architekturbiennale in Venedig eröffnet werden wird, wird im britischen Pavillon die Ausstellung „Done.Book“ des deutschen Philosophen Wolfgang Scheppe zu sehen sein. Der Titel bezieht sich auf John Ruskins „Venezianische Notizbücher“. Denn 124 der darin enthaltenen 1240 Blätter sind mit dem Vermerk „Done“ gekennzeichnet: John Ruskin hatte in diesen Notizbüchern den gigantischen und nicht zu bewältigenden Versuch unternommen, das gesamte romanische, byzantinische und gotische Venedig einer kunsthistorischen Inventur zu unter- werfen, Gebäude für Gebäude, Kapitell für Kapitell, Fensterbogen für Fensterbogen. Der Titel seines bekanntesten Buches, „The Stones of Venice“ (1851), ist also wörtlich zu verstehen. Und immer, wenn er den Eindruck hatte, einen Winkel, ein Detail dieser labyrinthischen Stadt für sich ganz erschlossen zu haben, versah er den entsprechenden Bogen Papier mit dem Vermerk „Done“.

Nur die eine Hälfte dieser Ausstellung wird indessen dem Kunsthistoriker und dessen berühmtem Werk gewidmet sein. Die andere gilt einem Venezianer, den außerhalb seines Viertels bislang keiner kennt und den, wäre Wolfgang Scheppe nicht über dessen Arbeiten auf einem Markt auf der Via Garibaldi gestolpert, die Öffentlichkeit nie kennengelernt hätte: Über Jahrzehnte hat Alvio Gavagnin, der im Jahre 1944 geboren wurde, verhinderter Seemann und im Berufsleben Ticketverkäufer in einem Vaporetto, ein venezianisches Archiv angelegt, eine Dokumentation des täglichen Lebens in einer Stadt, die von zwanzig Millionen Besuchern im Jahr für das Nicht-Alltägliche schlechthin gehalten wird: Mehrere tausend Fotografien gehören zu diesem Archiv, aber auch Zeitungsausschnitte, Heiligenbilder, Reiseführer, Fährtickets, und so viel davon, dass die kleine Wohnung der Gavagnins am Ende beinahe aus den Fugen ging. „Picturing the City of Society“ lautet der Untertitel der Ausstellung, deren aufwendig gestaltetes, selbst in ein Kunstwerk verwandeltes Katalogbuch Anfang September im Verlag Hatje und Cantz erscheinen wird (Done.Book. Picturing the City of Society. Stuttgart 2010. 368 S., 29,80). Und auch das Wort „Society“ muss man wörtlich nehmen: Denn es handelt sich bei diesen Bildern und Artefakten tatsächlich um Dokumente einer Gesellschaft.

John Ruskin verachtete die Renaissance nicht nur aus ästhetischen Gründen. In ihren Fassaden, in ihrer Symbolik der Ordnung und des Maßes sah er den materiellen Niederschlag eines Gemeinwesens, das die metaphysische Ordnung der Gotik – eine Ordnung, in der jedes Ding und jeder Mensch in einem unendlichen, göttlich bestimmten Gebilde aufging und von daher seine Bedeutung zugewiesen bekam – zugunsten einer Adelsgesellschaft verlassen hatte, die ihren Rang und ihre Herrschaft zu repräsentieren hatte und sich also einer Architektur und einer Kunst der Blendung bediente.

Die unendliche Mühe, die John Ruskin sich mit der älteren Architektur Venedigs machte, ist daher Ausdrucks eines Gesellschaftsideals, das der Historiker mit den Mitteln der Empirie wiederzubeleben versuchte – nicht nur als Dokument der Vergangenheit, sondern als Muster und Vorbild einer neuen Einheit von Arbeit und Gesellschaft, unter den Voraussetzungen einer wiedergewonnen, aber irdisch gewordenen Spiritualität. Deswegen sollen auch die Zeichnungen und Kommentare John Ruskins nichts sein als Dokumente, Handwerk, weder gezeichnet noch geleitet durch ein Subjekt, das sich an ihnen verwirklicht.

An diesem Punkt stoßen die beiden Archive oder Register, die Lebensarbeit des britischen Kunsthistorikers und die Manie des italienischen Freizeit-Dokumentaristen aufeinander. Denn auch Alvio Gavagnin erscheint als ganz dem Detail hingegeben, pure beobachtende Intelligenz, die nichts für sich beansprucht, auch wenn sie vielleicht das Bedürfnis hat, einen verlorenen Zustand der Stadt festzuhalten, die Stadt selbst vor dem Verschwinden zu erhalten, darin fortzuleben, und sei es in künstlich objektivierter Form. „Sowohl Ruskin als auch Gavagnin könnten sagen“, meint Wolfgang Scheppe, Ruskin zitierend,Mein Vergnügen bestand darin zu beobachten ohne selbst beobachtet zu werden – wenn ich unsichtbar gewesen wäre, um so besser‘.“ Wolfgang Scheppe folgt in seinem Ausstellungs- und Buchkonzept diesen beiden Dokumentaristen. Er führt zwar die beiden nur scheinbar so ungleichen Werke zusammen, er arrangiert sie, wie man eine Ausstellung arrangiert, nach thematischen Linien, verwandten Motiven, nach Blickachsen und Stoffen. Aber er tut dies nur, so- weit es unbedingt nötig ist. Er tritt hinter die Dokumente zurück, zeigt nur im Vorwort, was er will – und dieses Vorwort hat es in sich.

Denn Venedig ist einer der meistfotografierten Orte der Welt, vielleicht gibt es sogar keinen Ort, der in so vielen Bildern festgehalten wäre wie dieser. Wobei die allermeisten Bilder, die es von diesem Ort gibt, von der Absicht geprägt sein dürften, in irgendeiner Weise einem Ideal zu leibhaftiger Existenz zu verhelfen - ganz gleich, ob es sich dabei um Hohes oder Schlichtes, um Schönheit und Vergänglichkeit oder um persönliche Eitelkeit („Ich am Rialto“) handelt. Und immer muss das Bild herhalten als Indiz, nein, als Beweis für die Gültigkeit dieses Idealismus, ein Beweis, kräftiger und mächtiger, als es jedes Mitbringsel, jede literarische Aufzeichnung, jedes andere Zeugnis erbringen könnte.

So groß , so tief, so undurchdringlich ist dadurch das Bild von Venedig geworden, dass die Stadt nun schon vor Jahrzehnten anfing, ihrem eigenen Bild zu gleichen, so dass sie sich verwandelte in das Bild eines Bildes eines Bildes, in die Kopie einer Kopie einer Kopie, ihrer Nachbildung in Las Vegas ähnlicher als der Stadt, die sie selbst einmal war. Diese Geschichte erzählt (und analysiert) Wolfgang Scheppe, indem er die Zeichnungen John Ruskins und die Fotografien des Vaporetto-Schaffners Alvio Gavagnin zusammenrückt – zu einer Theorie der Bilder und zu den Bildern einer Theorie, die dem Betrachter die Augen dafür öffnen, was Bilder tatsächlich sind und wie sie wirken. Nicht nur im Angesicht der Fassade von San Giorgio Maggiore.