Vor einigen Monaten habe ich an dieser Stelle auf das Migropolis-Projekt des venezianischen Stadtsoziologen Wolfgang Scheppe aufmerksam gemacht (Migropolis, 09.06.2010). Nun ist, wiederum bei Hatje Cantz, sein neuestes Werk erschienen, die Arbeit über die Arbeit zweier Kollegen, Vorgänger im nichtamtlichen Mandat eines Offiziars der urbanen Erinnerung. „Done.Book“ heißt die Publikation diesmal, die Ausstellung, die sie begleitet, ist zugleich der Beitrag des britischen Pavillons für die diesjährige Architektur-Biennale.

Mit England hat Scheppes Präsentation durch John Ruskin zu tun. Dieser, der bedeutendste Ästhetiker der viktorianischen Epoche, ein Reaktionär, Intransigent, Nörgler von höchsten Graden, Gegner der Moderne und wie immer bei derlei Mentalitäten einer ihrer dringendsten Promotoren, hat sein Lebenswerk dem Kampf gegen die Herz- und Hirnlosigkeit der Industrialisierung verschrieben. Diese beginnt bei ihm schon in der Renaissance, deren künstlerische Kalküle der Einheit von „Headwork, Handwork, Heartwork“, wie sie die mittelalterliche Werkstattkonstellation auszeichnete, den Garaus gemacht hätten. Rukins Programm ist nichts anderes als expressionistisch, in den Unvollkommenheiten der Handwerksbetriebe sieht er jedenfalls bevorzugt den unverstellten Ausdruck. Seine Ziehsöhne, die Präraffaeliten, gaben dem Back-To-The Roots einer gleichsam vorästhetischen Herzinnigkeit schon im Namen statt.

„The Stones Of Venice“ ist Ruskins Hauptwerk betitelt, 1851 bis 1853 in drei Bänden erschienen, das Exempel schlechthin für den Horror Vacui der viktorianischen Mentalität. Jedes Hauseck, jedes Fenster, jeder Sims wird minutiös erfasst und als Beleg genommen für einen Umgang mit dem Werkstoff, der noch ganz bei sich, gleichsam authentisch ist. Ruskins Vater war Britanniens größter Weinhändler, der Sohn konnte es sich leisten, lange Jahre vor Ort zu sein und mit eigener Hand aufzulisten und aufzuzeichnen, was des Transkribierens ins Papier und späteren Publizierens in die voluminöse Stadtenzyklopädie lohnte. Ruskin ging systematisch vor, Viertel für Viertel, Gasse für Gasse, und hatte er ein Karree abkonterfeit, trug er ein „getan“, ein „done“ in sein Notizbuch ein. Diese ebenso lapidare wie epochennotorische Rechtfertigung des Geleisteten hat Scheppes „Done.Book“ den Begriff gegeben.

Ruskins Zeichnungen werden nun Fotografien gegenübergestellt. Alvio Gavagnin – allein der Name ist schon Verpflichtung für die venezianische Tradition – war Vaporetto-Schaffner, und er hat in den Achtzigern und Neunzigern dokumentiert, was noch festzuhalten war von einer ungebrochenen Identität der berühmten Stadt. Auch hier geht es um Hinterhöfe und andere Beiläufigkeiten, um Situationen im Morgengrauen und abseits der Trampelpfade. Dass Gavagnin in Castello zuhause war, auf der Rückseite quasi der Giardini, gibt seiner archivalischen Arbeit noch zusätzliches Lokalkolorit.

Scheppe hat also die Stadtarchäologien Ruskins und Gavagnins zueinander gesellt. Oftmals stehen sie sich im Buch auf einer Doppelseite gegenüber, links das Lichtbild, rechts die gezeichnete Version Ruskins (er war einer der beispielhaftesten und vor allem frühesten Vertreter des fotografischen Zeitalters, auch wenn er die neue Technik, was Wunder, nicht mochte). Ruskin wie Gavagnin wollten, mit den jeweils zeitgemäßen Methoden, dingfest machen, was sie sich in die Unwiederbringlichkeit verlieren sahen. Scheppe gesellt sich zu ihnen, mit wiederum zeitgemäßem Zugang: Venedig als Mental Map.