Jede Zeit hat ihr geistiges Zentrum. Babel, Athen, Rom, Paris – sie alle sind historische Stätten von Weltbedeutung. Gibt es eine solche Verortung des Zeitgeists auch noch in der Zeit der Globalisierung? Glaubt man dem Philosophen Wolfgang Scheppe, dann heißt dieser Ort, dem die Globalisierung wie nirgendwo sonst ihren Stempel aufdrückt, Venedig. 2009 zeigte Scheppe im Rahmen des epochalen Projektes Migropolis, wie die Stadt Stück für Stück unter die Räder der Globalisierungsphänomene gerät. Venedig ist zur Kulisse einer Inszenierung geworden. Touristenmassen überlaufen die Lagunenstadt, während die Bewohner Venedig in Scharen den Rücken kehren. Die Festung Europa hat ihre Zäune hochgezogen, während dahinter der Bedarf an Billigkräften zur Bespaßung der Reisenden steigt. Die historischen Mauern der Stadt werden zum Blendwerk einer nicht mehr existenten Authentizität. Venedig ist zu einer Ikone des klassischen Europa verkommen, die nur noch von ihrem Ruf, jedoch nicht mehr von der Realität profitiert. […]

Venedigs Bauweise hat keiner besser beschrieben als John Ruskin. In seiner Studie der venezianischen Architektur The Stones of Venice sieht Wolfgang Kemp auch eine direkte Vorläuferanalyse zu MacLeans Venedig-Aufnahmen. Ruskins zwischen 1851 und 1853 entstandene Studie in Bild und Schrift ist heute nur noch wenigen Experten sowie Studenten der Kunstgeschichte und Architektur ein Begriff. Noch viel weniger die mehr als 1.200 Seiten umfassenden Notizbücher, die die Grundlage seiner Untersuchung darstellen. Insofern ist Wolfgang Scheppes DONE.BOOK von doppelter Relevanz. Denn darin zeigt er nicht nur Auszüge aus diesen Notizbüchern, sondern stellt diesen noch nie veröffentlichte, historische Fotografien aus dem Privatarchiv von Alvio Gavagnin, einem ambitionierten Hobbyfotografen aus der venezianischen Arbeiterschicht, gegenüber. Die vorwiegend aus den siebziger und achtziger Jahren stammenden Fotografien wirken teilweise wie ein Kommentar auf MacLeans Aufnahmen des Kulturraums Venedig, weil sie ebenso wenig wie die Bilder des Amerikaners die touristischen Hot Spots ins Zentrum rücken. Sie präsentieren aber auch kein Panorama wie MacLean, sondern Details, Randphänomene und übersehbare Petitessen. Über die Gegenüberstellung von Detailskizzen Ruskins und Detailaufnahmen Gavagnins gelingt es Scheppe, die dort fixierte Zeitlosigkeit der venezianischen Architektur zu dokumentieren. Dieses Picturing the City of Society, also das Bebildern der Ruskin’schen Stadt der Gesellschaft, ist der historische Kommentar zu Scheppes Migropolis- Projekt – weit ausholend und tiefsinnig, dabei aber auch weniger leicht zugänglich.

Gavagnins Schwarz-Weiß-Aufnahmen machen aber deutlich, von welchem Mythos Wolfgang Kemp in seiner Einführung erzählt und auf den sich das moderne Venedig mit dem Aufbau und der Sanierung des Historischen immer wieder verzweifelt beruft. Angesichts zahlloser solcher Wiederaufbauprojekte mache es den Anschein, als habe „das imaginäre Venedig des Mythos die Hegemonie über die Steinerne Stadt des Alltags errungen“, wie Kemp schreibt. Wie sich dies konkret zeigt, demonstrierte Scheppes fast 1.400 Seiten dicker Band besser, denn er erlaubte sich dreist das verlieren in den zahlreichen Situations- und Detailaufnahmen, Statistiken und Einzelfällen – wie der Mensch in der globalisierten Welt. MacLeans Ansatz, den historisch zu erklärenden Raubbau Venedigs panoramisch und aus der Luft gesehen einzufangen, kann dies in der Form nicht leisten. Seine Venedig-Aufnahmen können dies nicht so überzeugend aufzeigen, wie es die Fotografien aus der Mojave-Wüste vermögen. Ihnen fehlt die den Las Vegas Bildern inhärente Chronologie bzw. die Ursache-Wirkung-Reihung, jedoch ohne dass sie für sich betrachtet etwas von ihrer Faszination verlieren. […]