Im Heft 1/2010 dieser Zeitschrift findet sich eine Sammelrezension neuerer und innovativer Atlanten. Zur selben Zeit erschien in einer Tageszeitung eine Rezension zu einem Buch mit dem Schlusssatz: „Gegenwärtig gibt es keinen besseren Report über die Gegenwart als diesen Atlas der Globalisierung.“ (taz 12.12.2009) Mit dieser Buchsorte und diesem apodiktischen Gesamturteil lässt sich eine nachträglich-ergänzende Rezension zum Thema Atlanten rechtfertigen.

Das Werk ist kein Atlas im herkömmlichen Sinne und Format; es sind zwei Buchbände in englischer Sprache mit über 1300 Seiten, voller Fotos, Grafiken, Erläuterungen, Interviews. Es bezieht sich in seinem Untertitel auf eine einzige Stadt, Venedig, mit dem impliziten Anspruch, dass damit das gegenwärtige big problems von Migration, Globalisierung und Stadtpolitik exemplarisch zu bearbeiten sei. Venedig gilt dabei als „Generic City“; mit dieser Begriffsschöpfung bezeichnet der holländische Architekt und Architekturtheoretiker an der Harvard-Universität REM KOOLHAAS eine Stadt in der Globalisierung, ein Territorium bevorzugter Beobachtung, von dem man auf die globale Dynamik und vorausgeahnte Trends schlussfolgern kann. Dies gilt z.B. in einer Kreuzung widersprüchlicher Themen, wie der Migration, mit dem gleichzeitigen Strom von Touristen mit Rückfahrkarte einerseits, und dem Strom arbeitssuchender Zuwanderer andererseits. Die Stadt wird in verschiedene Sektoren eingeteilt, wobei diese aber nicht räumlich, sondern als Aspekte zu verstehen sind: „Die Stadt XY betrachtet unter dem Aspekt Z“. In diesen Aspekten soll laut Werbung auf dem Schuber eine ganze Stadt zu entziffern sein (GUY DEBORD: „The sectors of a city are to some extent decipherable.“). Dies legt eine philosophische Linie zum Konzept der Spurensuche, wie sie in der Geographie vor Jahren von GERHARD HARD entwickelt worden ist.

Die Stadt wird in diesem Projekt in der jeweiligen Eigenschaft typischer Stadtstraßen beobachtet: (1) als Prospektstraße (Werbe-Image), (2) als Globale Straße (Verteilung von Wohlstand und globalem Austausch, Infrastruktur der Globalisierung, Leitkultur), (3) als Grenzlinien-Straße (Schengen-Gebiet, Militarisierung der Grenzen, Kopfzählung), (4) als Entertainment-Straße (Touristenmärkte, touristische Infrastruktur), (5) als Subsistenz-Straße (Drittländer-Ausländer-Perspektive), (6) als Konflikt-Straße (Maßregelungen mit Repression, Fremdenfeindlichkeit und Absonderung), (7) als Kulissen-Straße (Heterotopie, Palimpsest, Themen-Parks).

Wie wird dies versucht und was kann man damit anfangen? Zunächst: Es handelt sich um ein Lehrprojekt der Internationalen Architektur Universität in Venedig; sein Leiter ist der deutsche Philosoph WOLFGANG SCHEPPE. Das Projekt war zunächst auf einige Monate angelegt und hat dann drei ganze Jahre beansprucht. Dafür gab es eine große Ausstellung Ende 2009 in Venedig und das kiloschwere Buchprodukt.

Um das Ergebnis vorwegzunehmen und damit auch den Sinn dieser ergänzenden Rezension: Es ist ein spannendes Bilder- und Lesebuch, das zwar einige strukturierende Lesehilfen in Gestalt der oben genannten Aspekte anbietet, das aber vom Leser in seiner Vielschichtigkeit selbst erschlossen werden will. Vielschichtigkeit meint dabei nicht nur die sachliche Differenziertheit (Stadt als …), sondern die Art und Tiefe der Beobachtung.

Ein Beispiel: Auf mehreren kleinen Fotos wird eine gebeugte alte Frau als Bettlerin gezeigt. Eine kleine Spur könnten die Wollhandschuhe sein, die die Bettlerin mitten im Sommer trägt. Der Text behauptet nämlich, dass sich hinter der Gestalt der Bettlerin ein junger Mann verbirgt, der so seit Jahren um Mitgefühl bettelt; die Handschuhe trage er, um seine junge Haut zu verbergen. Zu dieser Deutung kann man gelangen, wenn man die Bettler-Gestalt wiederholt und über den ganzen Tagesgang beobachten kann. Im bloßen Vorübergehen wird man immer die Oberfläche sehen, im Zweiten Blick kann man die Tiefenstruktur entziffern. Aber es gibt sicher auch noch einen Dritten Blick, in dem die entlarvte Gestalt neu gesehen wird – es kann ja sein, dass ein rumänischer Jugendlicher ebenso arm und hungrig ist wie eine alte Frau; dann wäre die gewählte Gestalt ein Geschäftsmodell, das man nicht einfach Betrug nennen kann. Nun entsteht die Folgefrage: Wie verhalte ich mich gegenüber diesem Menschen? Folge ich dem Rat erfahrener Sozialarbeiter, dem bandenmäßig arbeitenden Bettler nichts zu geben, ebensowenig wie den Tauben oder Möwen? (In Wien z.B. ist das Füttern von Tauben mit einem Strafgeld von 36 € bewehrt; große Plakate verkünden: „Wer Tauben füttert, füttert Ratten“). Wann hat es denn ein Bettler verdient, als Bettler im Sinne der christlichen Nächstenliebe behandelt zu werden?

Wie ist diese Fundgrube für den Zweiten und Dritten Blick fachlich zu beurteilen? Ein Essay in dem Buch trägt die Überschrift „Beyond Geography“. Damit ist der gegenwärtige Paradigmenwandel gemeint, der sich von einer „Container-Geographie“ der Dinge und einfach-kausalen Wechselbeziehungen entfernt und dem raumgebundenen und raumverändernden Handeln der gesellschaftlich lebenden Subjekte zuwendet: Handlungs- und Subjektzentrierung lautet dafür das Label (u.a. über ANTHONY GIDDENS maßgeblich implantiert vom Jenaer Sozialgeographen BENNO WERLEN), im Rahmen der Grundfigur des Konstruktivismus. Die Komplexität der Stadt (oder anderer „Räume“) besteht weniger in seiner dinglichen Vielfalt, als in den Perspektiven und Handlungen der Subjekte. Dabei ist zu unterscheiden zwischen einer Innenperspektive des Subjektes im Medium (Stadt etc.), und einer Außenperspektive, in der ein Beobachter die Dinge und Handlungen von außen betrachtet wie ein Objekt. Um dieses Paradigma plausibel zu finden und damit subjektive Wirklichkeiten innerhalb einer unendlich komplexen äußeren Realität zu entschlüsseln, braucht es Überzeugung und Übung. Und es braucht einen Zweiten und Dritten Blick.

Die Überzeugung, dass ein handlungszentriertes Paradigma in der Geographie plausibel ist, wird in der Literatur vielfach unterstützt: Raum ist eine Narration, diese weckt Imaginationen, diese machen uns aufmerksam auf Konzepte, zeigen uns Räume für alltägliches Leben (Lebenswelten). Wir unterscheiden (mit ED SOJA) zwischen einem wahrgenommenen, einem konstruierten und einem gelebten Raum (space perceived, space conceived, space lived). Räume/ Regionen werden als Ausdruck von Machtbeziehungen betrachtet, als symbolische Form, als administrative Institution, als sozial-räumliches Bewusstsein (Paasi). Räume/ Geographien werden „gemacht“ in Prozessen der Produktion/ Konsumtion, der normativen Aneignung/ politischen Kontrolle, der Information/ symbolischen Aneignung (GIDDENS/ WERLEN). Dieser Pluralismus neuerer Kategorien wird noch angereichert durch ältere Gewissheiten wie etwa die von KEVIN LYNCH: „Unsere Wahrnehmung von Stadt ist zumeist nicht haltbar, sie ist eher partiell, fragmentiert, gemischt mit anderen Belangen. Nahezu jeder unserer Sinne ist aktiviert, und das Bild der Stadt ist eine Mischung von alldem.“

Wenn man diese Mischung von altem und neuem Denken anwenden will, braucht man empirisches Material und/oder echte Problemstellungen (die ihre Lösung noch nicht in sich tragen). Das Migropolis-Projekt ist so ein Fundus für beides: Die Bilder/ Grafiken/ Karten/ Texte und Interviews liefern einen Interpretationskorpus, die nachfolgenden Fragen aus einem Zweiten und Dritten Blick setzen den Außenbeobachter ein in eine eigene Subjektzentrierung.

Damit sind wir bei der hier abschließenden Frage zur Didaktik: Was kann man mit dem Material anfangen? Der Rezensent hat im Rahmen ganztägiger Lehrerfortbildungen das neue Paradigma in der Geographie unterfüttert mit dem Migropolis-Werk und daraus einen Lehrgang gebaut: „Beyond Geography!? The World with wide Eyes“.Dieser Lehrgang besteht aus der freihändigen Diskussion der Notwendigkeit und Plausibilität eines neuen Paradigmas (über die Container-Geographie hinaus) und zwei Spaziergängen durch Venedig mit zwei Brillen: Der Oberflächenbrille („Was ist der Fall?“) und der Tiefenstrukturbrille („Was steckt dahinter?“). Die alte Bettlerin/ der junge Bettler war dafür oben ein Beispiel. Es können einem dabei auch die Schuppen von den Augen fallen, Unsichtbares wird plötzlich sichtbar, Tunnelblick und blinde Flecken werden bewusst, Probleme verschieben sich je nach Perspektive und Sachaspekt. Der Beobachter und Interpret wird gefordert in der Reflexion seiner Beobachtung und in den verschiedenen Optionen für eigenes Handeln.

Das wäre zugleich ein Programm für den modernen Geographieunterricht, der nicht mehr mit dem Übermaß des Wissens operieren kann (allein schon aus Zeitmangel) und stattdessen aufklärerische Kompetenzen entwickeln muss. Der Standard in diesem Sinne wäre, für Lehrer wie für Schüler: Wie kommen wir an lohnende Problemstellungen heran, welche davon sind – ergebnisoffen – auch faktisch bearbeitbar zu machen, wie beurteilen und bewerten wir die Sache und unsere eigene Arbeit im Erkenntnisprozess? Und natürlich wie immer in der Politischen Bildung: Wem nützt es? Und was folgt daraus?

Man sieht aus alledem: Das Migropolis-Projekt setzt Lehrer und Schüler (Studierende) instand, mit sehr begrenztem Aufwand einige große Fragen der Gegenwart am Objekt zu diskutieren und dieses fachlich und subjektiv zur Orientierung zu nutzen. Nachdrücklich zu empfehlen.