[…] Wolfgang Scheppe sieht das so, ein deutscher Professor, 55, er hält Venedig für den dynamischsten Ort des alten Kontinents, bereit zum Risiko und zur maximalen Ausbeutung. ein Laboratorium, an dem sich erforschen lässt, was anderen Städten erst bevorsteht. Scheppe steht auf der Seufzerbrücke, dem Ort, an dem vor 300 Jahren die Verurteilten zum letzten Mal das Sonnenlicht sahen, bevor sie in den Kerker gingen. Heute ist die Brücke zugehängt mit Werbeplakaten, Bulgari, Versicherungen, Guess-Jeans. touristen knipsen sich vor diesen Plakaten, zum Beweis, dass sie hier gewesen sind, dann laufen sie in Andenkenläden, an deren türen Schilder hängen: „enter only to buy“, Zutritt nur bei Kauf. Scheppe findet, das sei, in einem Satz, die ganze Wahrheit über Venedig. Scheppe leitete das Forschungsprojekt „Migropolis“, drei Jahre lang suchten seine Studenten nach den Kehrseiten von Venedigs Postkartenromantik. Zwei beklemmende Bildatlanten sind dabei herausgekommen, Venezianer kommen nicht vor darin, sie spielen keine Rolle mehr. Scheppe sagt: „Venedig ist die globalste Stadt Europas, hier prallen die weltweiten Wanderströme aufeinander, Millionen von touristen, Zehntausende Migranten, hier zeigt sich, unter welchen Bedingungen wir in 20 Jahren leben werden.“ Wer sich von Scheppe durch die Stadt führen lässt, bekommt eine Vorstellung davon. In Straßencafés hört man, wie Russen die „echt italienische Pasta“ loben, die ihnen schlechtbezahlte Bangladescher in der Küche bereiten. An Souvenirständen sieht man, wie Händler „Made in China“- etiketten aus den Waren reißen, bevor sie chinesische Reisegruppen becircen. Wer Scheppe zuhört, erfährt von Warenströmen Parallelökonomien, von Ausbeutung und Abschottung, von einer Stadt, die sich zum Schutz vor Invasoren wie Hunnen und Langobarden im Meer erfand, zum Welthandelszentrum hochkämpfte und sich heute wieder verbarrikadiert gegen eindringlinge.

Handel bestimmt diese Stadt, das war schon immer so gewesen, und heute gehorcht Venedig den Gesetzen der Globalisierung. „Venedig retten zu wollen ist sentimentaler Quatsch, das wäre so, als wollte man den Lauf der Welt anhalten“, sagt Scheppe. „Venedig ist nicht zu retten, nicht mit Mose, nicht mit Bürgerprotesten, die Zukunft ist längst da.“ Venedig als einkaufsparadies, „Shoppen in romantischer Kulisse veredelt den Kaufakt“, sagt Scheppe, „selbst wenn die Ware gefälscht ist.“