NETZWERKE Ein interdisziplinäres Projekt untersucht die soziokulturellen Veränderungen der Globalisierung

Es gibt Orte, die ihrem Wesen nach gleich sind, obwohl sie tausende Kilometer voneinander entfernt liegen. Die bis zu zwölf Meter hohe Steinwand im Westjordanland und die „Tortilla-Mauer” zwischen den USA und Mexiko sind zwei solche Plätze, ebenso wie die entmilitarisierte Zone zwischen Nord- und Südkorea oder der Stacheldraht um die spanischen Enklaven Ceuta und Melilla. Diese Grenzlinien sind die Konfliktgebiete unserer Zeit. Hier finden die Verteilungskämpfe der globalisierten Moderne statt. Migration und Mobilität stoßen hier auf Produktion und Wirtschaftsflow.

Während sich jedoch für Waren und Produkte die Grenzen magisch öffnen, werden die Menschen abwehrende Zäune und Mauern täglich höher gezogen. Dies führt zur Konstruktion von sozialen Räumen, die für die einen völlig offen und für die anderen nahezu unüberwindbar verschlossen sind. Der Philosoph Wolfgang Scheppe hatte im vergangenen Jahr mit Studenten an der Universität in Venedig demonstriert, welch absurde Paralleluniversen beim Aufeinandertreffen von Migration, Marktwirtschaft und Massentourismus entstehen.

Die wichtigste Erkenntnis aus dem Projekt lautet: Strukturelle Eindeutigkeiten heben sich zunehmend auf. Die Komplexität einer Welt, in der Migranten in den „sicheren Zonen” nicht gewollt, aber heimlich gebraucht sind, weil sie dort als „illegale” Dienstleister billig die Touristenmassen versorgen und somit die Attraktivität des Standorts befördern, erfordert die Verflüssigung der einstmals starren Grenzen.

In einer solchen Welt, in der die Ausnahmesituation zur Normalität erklärt wird, verändern sich auch die Strukturen der Vergemeinschaftung, meinen die Wiener Kulturwissenschaftler Peter Mörtenböck und Helge Mooshammer. In ihrem Buch „Netzwerk Kultur. Die Kunst der Verbindung in einer globalisierten Welt” untersuchen sie die Anpassung von Netzwerken an die gegenwärtigen Verhältnisse.

Attraktive Allianzen

Ausgangspunkt ihrer Erkenntnisse ist das interdisziplinäre Forschungsprojekt Networked Cultures ( www.networkedcultures.org ), das seit 2005 die mit der Globalisierung einhergehenden soziokulturellen Veränderungen in Europa untersucht hat. Netzwerk ist dabei wie Vergemeinschaftung zu verstehen und reicht von der Zusammensetzung eines Stadtviertels bis zu grenzüberschreitenden soziokulturellen Bewegungen und transnationalen Politikgemeinschaften. Gewalttätige Netzwerke wie Terrorvereinigungen werden in der Studie nicht berücksichtigt, denn den Autoren geht es um die problemlösende Kreativität von Netzwerken, nicht um das Krisenpotenzial von Gewaltgruppen.

Unter den Bedingungen der Globalisierung verlieren Netzwerke ihre alten Muster. Bildeten sich Netzwerke früher vorrangig an Schauplätzen sozialer Entwicklungen, ist ihre mobilisierende Kraft heute zunächst ungewiss. Es gehe nicht mehr darum, „einen Raum für kulturelle Erfahrungen zu entwerfen, sondern umgekehrt kulturelle Erfahrung zu ermöglichen, die einen Raum schafft, dessen Umriss noch nicht feststeht”, meinen Mörtenböck und Mooshammer. Im Fall der eingangs beschriebenen Grenzpolitiken heißt das, dass erst das gemeinsame Bedürfnis, diese ausgrenzenden Mechanismen herauszufordern, zur Vernetzung von Individuen und sozialen Bewegungen und zum globalen Verständlichmachen dieses Ausschlusses führt.

Netzwerke in der globalisierten Welt scheinen demzufolge zunächst von einem ziellosen Aktivsein geprägt. Genau darin liege ihre Stärke, meinen die beiden Wiener Wissenschaftler. In einer Welt, die zunehmend weniger Halt bietet und mehr Flexibilität erfordert, seien solche Netzwerke „attraktive Handlungsallianzen”, da sie die Möglichkeit zur Transformation versprächen. „Im Moment des Umbruchs werden sie Träger der Hoffnung, kollektive Möglichkeiten der Beteiligung und Veränderung zu finden.” Der Neomarxist Antonio Negri nennt diesen gemeinschaftsbildenden Prozess der Preisgabe, Umschichtung und Neugestaltung von Argumenten die „Ablösung der Seele durch das Netzwerk”, an dessen Ende der kreative Schwarm der sozialen Bewegungen, die Multitude, steht. Wie diese Ablösung konkret vonstatten geht, diskutieren Mörtenböck und Mooshammer im zweiten Teil ihres Buchs, allerdings ohne wirklich zu überzeugen. Sie untersuchen die sich vollziehenden Anpassungen von Netzwerken in sozialen Erfahrungsräumen, in denen sich Gesellschaften aufgrund der Prozesse der Globalisierung neu formierten und informelle Netzwerke die bestehenden sozialen Beschränkungen unterliefen.

Ob in Brcko oder Istanbul, Moskau und London – was an den beschriebenen Beispielen deutlich wird, ist keineswegs neu: Die Ökonomisierung aller Lebenszusammenhänge rückt die Welt zusammen, und Menschen, die sich vor Jahrzehnten nie begegnet wären, leben nun Tür an Tür. Konflikte sind programmiert. Dass in solchen Fällen Dialog und kulturelles Miteinander jenseits des Ökonomischen gesellschaftliche Konflikte um Fragen der Ausgrenzung vermeiden können, ist richtig. Die „Selbstregulierung” der modernen Gesellschaften innerhalb der Vergemeinschaftungen ist sogar logische Konsequenz. Das Wichtigste aber fehlt: Ohne Vernunft und Toleranz helfen auch die Netzwerke nicht.