Das Foto zeigt eine Alltagsszene in Venedig: Ein chinesischer Tourist kauft eine gefälschte Markenhandtasche bei einem senegalesischen Straßenhändler. Hergestellt wurde die Tasche wahrscheinlich in China oder von chinesischen Migranten in Italien. Vom Original unterscheidet sie oft nichts als der »Made in China«-Aufkleber, die der Straßenhändler vor dem Verkauf sorgfältig entfernt hat. Der Bürgersteig am Kanalufer ist übersät mit den kleinen Aufklebern. Dieses Foto enthält ein Grundmotiv des Projekts »Migropolis«: die Begegnung von Migranten und Touristen in einer globalisierten Stadt mit einer schrumpfenden innerstädtischen Bevölkerung. Von 2006 bis 2009 haben Studierende an der Universität für Architektur in Venedig unter der Leitung des Philosophen Wolfgang Scheppe eine Feldforschung in der Tradition der Situationisten unternommen. Das Ergebnis der Arbeit war in einer Ausstellung zu besichtigen, die in der venezianischen Fondazione Bevilacqua gezeigt wurde. Begleitend erschienen ist auch ein zweiteiliger Bildband mit Fotografien, Grafiken, Interviews, Bewegungsprofilen und Statistiken. Venedig zählt weder zu den Zentren der Weltwirtschaft noch zu ihren Elendszonen, ist aber insofern ein exemplarischer Ort der Globalisierung, als hier eine schwindende einheimische Bevölkerung auf das Millionenheer des Tourismus und eine Parallelökonomie illegalisierter Migranten trifft. Die Besucher kommen zumeist mit festen Vorstellungen davon, was sie in Venedig erwartet. »It’s like being in a photograph that you have in your mind«, beschreibt eine Touristin ihren Eindruck von der Stadt. Venedig hat sich zu einem globalen visuellen Klischee entwickelt. Gerade weil es immer unvergleichlich und einzigartig genannt wird, fordert es Vergleiche heraus – »Venedig des Nordens« für Brügge, Hamburg oder Amsterdam, oder aber Nachbauten, wie in einem Casino in Las Vegas. Eine solche Stadt lädt zur Kritik des Bildes geradezu ein. Wolfgang Scheppe und seine Studierenden beziehen sich auf Guy Debord und die Situationisten, auf die Konzepte des dérive, der Psychogeographie und natürlich des Spektakels. »Das Spektakel ist das Kapital in einem solchen Grad der Akkumulation, dass es zum Bild wird«, heißt es in »Die Gesellschaft des Spektakels«, und besonders anschaulich wird diese These am Beispiel Venedigs. Ähnlich wie die Situationisten, verfahren die Macher von »Migropolis« bei der Kritik des Spektakels nicht ikonoklastisch, sondern bedienen sich selbst des Bildes als Kunstmittel. Die Fotos zeigen die öden Industrieviertel von Mestre auf dem Festland. Nachts stehen hier die Prostituierten, aber die Aufnahmen wurden tagsüber gemacht, so dass Hurenromantik gar nicht erst aufkommt. Man sieht Bilder von Senegalesen, die sich in den Gassen Venedigs niedergelassen haben und versuchen, trotz ständiger Beobachtung durch die Polizei mit ihrem Straßenhandel zu überleben. Die riesigen Werbeplakte an den Baugerüsten vor den Fassaden der großen Palazzi werben für jene Produkte, deren Plagiate die Sans Papiers auf der Straße verkaufen. Manche Bilder wirken auf den ersten Blick wie für die Tourismuswerbung gemacht, erst bei genauerem Hinsehen offenbaren sich Details, die die Idylle stören, eine blaue Plastikmülltüte oder eine Polizei- Uniform. Weniger subtil wird dagegen in den Texten argumentiert. Es gibt hier durchaus die üblichen Verdächtigen und die üblichen Verkürzungen der Globalisierungskritik. Wenn der Dollar als Ursache für Armut bezeichnet oder ein ganzes Unterkapitel McDonald’s gewidmet wird, dann bleiben die Autoren – situationistisch gesprochen – auf der Ebene des Spektakels stehen. Dass der Zauber Venedigs nur Schein ist, dass es eben nicht auf die Bewahrung eines essentiellen kulturellen Wertes ankommt, bleibt aber zentral für den Ansatz des Buches. Dennoch wäre das Projekt kaum vorstellbar ohne die von Venedig ausgeübte Attraktion. Hätte es z.B. Frankfurt am Main in den Mittelpunkt gestellt, wo immerhin nicht nur ein paar Touristen, sondern vor allem Messebesucher neben den Migranten zu beobachten wären, dann hätte Migropolis wohl kaum ein größeres Publikum anlocken können, kaum eine so ansprechende Aufmachung gehabt und wäre wahrscheinlich auch nicht von der Stiftung Buchkunst als »eines der schönsten Bücher« des vergangenen Jahres prämiert worden.