Migropolis
Jürgen Weber / Versalia, Germany / 17|2|2010
„The refugee should be considered for what he is, that is, nothing less than a border concept.“, steht in großen schwarzen Lettern auf dem Schober dieser außergewöhnlichen Publikation. Das Zitat von Giorgio Agamben umreißt in etwa den Gestaltungsbogen des Konzepts, in dem es nicht nur um Migration geht, sondern anhand der venezianischen Situation eine Globale exemplifiziert wird. Der Mobilisierung des Lebens setzt die industrialisierte Welt die Militarisierung der Grenzen entgegen, diese Grenzen gelten zwar für den Migranten, nicht aber für den Touristen, dessen Strom Venedig zu einer modernen Illusion hat werden lassen: eine Stadt in der nicht mehr gelebt wird und die dennoch Milliarden erwirtschaftet. Im Herbst 2009 wurde aus diesem Grund auch symbolhaft „der Venezianer“ in einer Gondel auf dem Canal Grande zu Grabe getragen. Die gemeldeten Einwohnerzahl sank erstmals unter die 60.000er Grenze und das böte eigentlich schon Anlass genug, über die Situation der einzigartigsten Stadt der Welt nachzudenken.
Wolfgang Scheppe und seine Studentenklasse der IUAV (Istituto Universitario di Architettura di Venezia) präsentiert in einer der wohl ebenso wie deren Gegenstand einzigartigen Publikation die Daten und Fakten zur Erfassung der Globalisierung am Beispiel Venedig. Das besondere Verdienst dieser außergewöhnlichen Aufgabe ist die charmante und ganz kurzweilige Präsentation der teilweise sehr schwierigen und komplexen Prozesse, die der globalen Situation nun einmal zugrunde liegen. Das statistische Material wird auf eine verdauliche und äußerst bekömmliche Art und Weise aufbereitet, sodass selbst der Laie sich dafür zu interessieren beginnt, wie es eigentlich möglich ist, dass ein Zustand wie Venedig noch am Leben erhalten werden kann, obwohl es sich doch eindeutig um eine Stadt der Illusionen handelt. Der Tourismus, der die Stadt einerseits stranguliert, kreiert ein System der subsidiären und illegalen Arbeitsmarktes, auf den die Stadt auch angewiesen zu sein scheint. So kommt es auch zu der grotesken und absurden Situation, dass die Schwarzmarkthändler die ohnehin überfüllte Stadt noch zusätzlich mit ihren Produkten überschwemmen, obwohl doch schon in den Geschäften fast nur mehr illegal in China erzeugte Ware verkauft wird. Die Schwarzafrikaner oder Inder, die auf ausgebreiteten Leintüchern, ihre legal hergestellten, aber illegal verkauften Handtaschen oder andere Souvenirs verkaufen, sind Teil desselben großen Spektakels wie die chinesischen Billigsdorfergeschäfte.
Es kommt im durch und durch globalisierten Venedig (die Historie ist zur Kulisse verkommen) zu der grotesken Situation, dass chinesische Touristen vermeintlich echte Souvenirs von Senegalesen abkaufen („Tautology Venice“ nennen es die Autoren auf Seite 47) und die Carabinieri dabei zusehen. Oder wie steht es so schön in Handschrift auf der Vitrine eines Geschäftes in der Nähe von San Marco, das im Buch auf der ersten Umschlagseite abgebildet ist: „Entrare solo per comperare“ (sic!). Man solle das Geschäft nur betreten, wenn man auch etwas darin kaufen wolle, nur leider wurde dabei die Infinitivform von „comprare“ (kaufen) von einem offensichtlich selbst aus dem Ausland stammenden Ladenbesitzer falsch buchstabiert. „No Backpack, Rucksack, mochila, zaino“, „Inside only to buy“, „Special Price“ (das ganze Jahr) oder „No Credit“ zieren andere Anmerkungen des Souvenirverkäufers und wenn man genug gegessen hätte, würde man ihm am liebsten vor den Bordstein kotzen, was einem ja bei der zumeist schlechten Küche Venedigs gar nicht so schwer fallen würde. In den Worten Scheppes hört sich das dann beinahe noch drastischer an: „Wenn eine Stadt ein gewaltiges Geschäft mit mehr als 20 Millionen Touristen im Jahr anzieht, ist es eine Notwendigkeit der globalisierten Welt, dass auch eine sogenannte Parallel-Ökonomie entsteht. Eine Schattenwirtschaft, die in Venedig im hellen Licht der Promenaden stattfindet. Das macht dieses Phänomen in Venedig deshalb so sichtbar und führt zu Konflikten mit den mächtigen Vertretern des wahren Geschäfts. Die Protagonisten dieses Schwarzmarkts sind Hersteller, die in vielen Fällen auch die Produzenten der echten Brand-Products sind.“
Die Publikation (der Titel „Migropolis“ ist übrigens eine Zusammenfügung der griechischen Wortwurzel für Stadt mit dem Terminus der Migration) glänzt weiter durch spektakuläre Luftaufnahmen, Fotos, Pläne, Zitate, Daten, Fakten und eine einmalige visuelle Darstellung teilweise bekannter oder auch unbekannter Phänomene der Globalisierung am Beispiel Venedigs. Wenn es etwa um die Industrialisierung geht dient nicht ohne Ironie eine Aufnahme der smogverpesteten Luft der Riva degli Schiavoni durch Marghera zur Illustration, die durchaus mit „cloudscape paintings by the like of Canaletto and Turner“ mithalten könnten. Obwohl nämlich die De-Industrialisierung schon angefangen hätte, zähle auch heute noch Marghera zu den „leading centres of industrial production in Italy“. Etwa Alcoa, das toxische Substanzen wie Carbon Polyfluorides aufgrund ihrer Aluminiumproduktion in die Atmosphäre Venedigs emittiert. Porto Marghera, die Industriezone Venedigs, ist keinen Steinwurf entfernt vom Zentrum einer der wohl ältesten und schönsten Städte der Welt. Seltsamerweise gehört die Lebenserwartung der Venezianer übrigens dennoch zu den höchsten der Welt, aber das liegt sicher nicht an der Verseuchung der Luft, sondern daran, dass die Bewohner Venedigs gezwungen sind, sehr viele Wege zu Fuß zu gehen und dabei gleich mehrere der rund 400 Brücken Venedigs täglich zu bewältigen haben. Außerdem werden auch Betroffene des internationalen Arbeitsteilungsprozesses, etwa eine moldawische Reinigungsfrau oder der Straßenverkäufer Momo X. und viele andere, interviewt und so die Perspektiven auch von unten gezeigt. Auch die durch Pappkartons visualisierbar gemachte Bevölkerungspyramide Italiens wird eindrucksvoll mit der vom Senegal verglichen und nachvollziehbar gemacht, was eine bloße Statistik wohl nicht so könnte. Eine andere Fotoserie wiederum widmet sich den Global Brands, die die Innenstadt um San Marco „gebrandet“ haben und dabei so manche urtümlich Szene ausgelöscht haben. Ich persönlich erinnere mich an den Besuch eines alten Kinos, in dem sich nun eine solche Markenkette befindet und als mein venezianischer Freund den Verkäufer fragte, ob er hier eh richtig sei, wusste dieser nicht einmal in welch ruhmreichen Hallen er die jeder Beschreibung spottenden Kleider verkaufte. Globalisierung löscht lokale Traditionen aus, auch diese Geschichte wird hier erzählt.
“The spectacle can only be critiqued in spectacular terms“, bemerkte einst Lewis Baltz und dessen eingedenk, kann diese Publikation durchaus als mehr als nur bloß „spektakulär“ bezeichnet werden. Wer sich auch nur ein bisschen für die kontemporären Diskussionen, Trends und deren visuelle, didaktische und wissenschaftliche Aufbereitung interessiert, wird bei diesen beiden Büchern geradezu jubeln. Ein Meilenstein des postmodernen Narrativs der Postmoderne, ein Buch das tatsächlich - im Sinne Guy Debords - einige Sektoren der Stadt (Venedig) sowie der Welt endlich auch für den Laien und gleichzeitig den Profi dechiffrierbar macht; und das ist auf einem immer komplexer und undurchschaubarer werdenden Planeten wirklich eine Meisterleistung!